Bemerkenswert

Zu diesem Blog und über mich

This is the post excerpt.

Während der letzten fast zwanzig Jahre, hatte ich Zeit, mich mit meiner Erkrankung auseinander zu setzen. Mit 16 Jahren fing es an. Von einen auf den anderen Tag hatte ich chronische Migräne. Davor wurde ich nur ab und an Mal von einer Attacke übermannt. Als Kind Schmerzen zu haben, die mich nicht selten zum Weinen gebracht haben, das war zwar schlimm, aber ich konnte mir damals noch nicht vorstellen, dass ich diese Schmerzen fast täglich haben würde. 

Mit 16 also fing es an und ich fühlte mich oft völlig ausgeliefert. Damals hatte ich auch noch keine wirksame Akutmedikation. Aus Verzweiflung habe ich bis zu 10 Tabletten am Tag von den gängigen Schmerzmitteln konsumiert, obwohl ich wusste, dass sie nicht helfen werden. 

Ich ging zur Schule, machte mein Abitur, fing eine Ausbildung an und wechselte dann in ein Studium. Das alles begleitet von vielen Fehlzeiten. In der Schule fehlte ich meist zu den Randstunden, also entweder früh am Morgen oder spät am Nachmittag. Das Abitur habe ich trotzdem mit vergleichsweise wenig Anstrengung geschafft. 

Später im Studium (Sozialpädagogik) konnte ich mir vieles selbst einteilen und wenn ich gefehlt habe, so fiel das meist nicht auf. Damals konnte ich meinen Alltag mit den Schmerzen ganz gut regeln, schwierig wurde es erst im Job. 

Ich hatte mir einen anstrengenden Beruf ausgesucht. Direkt nach dem Studium arbeitete ich in einem psychiatrischen Wohnheim. In diesem Job musste ich immer zu Hundert Prozent fit sein, Fehler und Unkonzentriertheit konnte ich mir nicht leisten. Außerdem hatte ich ja auch Kollegen, die sich auf mich verlassen können mussten. 

Es dauerte nicht lange, und es stellte sich ein Negativkreislauf ein. Ständige Migräne-Attacken, übermäßiger Stress im Job, Angst zu versagen und keine Möglichkeit zwischen den Attacken und dem Job zur Ruhe zur kommen. Nach einem Jahr hatte ich mein erstes Burn-Out. Ich fiel zum ersten Mal für mehrere Monate aus. Eine Reha folgte. Danach fing ich mit einer reduzierten Stelle wieder an zu arbeiten. Das ging so irgendwie, auch wenn ich nach wie vor an mindestens 15 Tagen im Monat Attacken hatte. 

Nach einer Zeit wurde ich schwanger, ging in Elternzeit. Während der Elternzeit machte ich eine Zusatzausbildung, weil mir klar war, dass ich nicht länger in der Psychiatrie arbeiten konnte. 

Als ich nach der Elternzeit wieder anfing, zu arbeiten (im neuen Job), fing der Kreislauf von vorne an. Ständige Attacken, die Anforderungen an mich als Mutter, Stress im neuen Job… Wieder Burnout und dazu eine sehr schwere Depression. Wieder Krankschreibung und Reha. Diesmal konnte ich aber nicht mehr arbeiten gehen, zwei Jahre habe ich gebraucht, um mich davon zu erholen. Ich bin dauerhaft arbeitsunfähig und darf laut Gutachter nicht mehr in meinem Beruf arbeiten. 

Seit einiger Zeit plagen mich weitere Schmerzen, ganz difus, es tut mir einfach manchmal der komplette Körper weh. Die jahrelangen chronischen Schmerzen haben wohl eine weiter Erkrankung zur Folge, vermutlich Fibromyalgie.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich der Austausch mit anderen Betroffenen positiv begleitet. Diese Gespräche geben mir sehr viel Kraft und ich genieße es, mich nicht erklären zu müssen. 

Aber ich möchte auch erklären, wie das ist, wenn die Schmerzen den Alltag begleiten. Welche Sorgen ich habe, welche Gedanken mich umtreiben, worüber ich mich ärgere, aber auch was mir Kraft gibt. Manchmal ist mein Kopf so überladen mit diesen Dingen, dass ich schon seit meiner Jugend darüber schreibe, in Form von Tagebuch.

Ich möchte dies auch an andere weiter geben. Ich möchte, dass andere Betroffene sich verstanden fühlen, und dass wir uns austauschen können. Und ich möchte auch Nicht-Betroffene aufklären und verstehen helfen. 

Es wird sicher Berichte geben, die von negativer Stimmung geprägt sind, aber genauso wird es auch die anderen geben. Es geht mir in meinem Leben ja nicht nur schlecht, es gibt vieles, das ich sehr zu schätzen weiß. 

Wenn Ihr wollt, dann begleitet mich ein Stück auf meinem Weg. Ich freue mich auf euch. 

Elternarbeit

Ich versuche mich mal im Perspektivwechsel: Ich glaube, für Eltern ist es im Umgang mit erwachsenen AutistInnen manchmal gar nicht einfach, genauso wie es für AutistInnen in der Selbsthilfe nicht immer so einfach ist, den Kontakt zu Eltern auszuhalten. Viele Triggerpunkte werden gedrückt, auf beiden Seiten.

Es ist oft ein regelrechter Kulturschock und gerade diejenigen AutistInnen, für die ein achtsamer Umgang mit autistischen Bedürfnissen maßgebend ist, stellen einige Eltern vor eine große Herausforderung. Viele von uns fordern einen Umgang abseits von „auch einE AutistIn muss das lernen“, aber es ist oft schwer, sich vom gesellschaftlich geprägten Umgang mit Kindern zu verabschieden. Das ist mit vielen Ängsten, aber auch Vorurteilen verbunden, und nicht zuletzt stecken Eltern oft viel zu sehr selbst in diesen Mustern.

 

Unsere Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft, und wir alle kennen die Folgen. Aber genau diese Gesellschaft übt permanent Druck auf Eltern aus. Das geht grundsätzlich allen Eltern so. Aber insbesondere Eltern neurodivergenter Kinder können sich oft vor der Fülle an vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen kaum retten. Am besten plant man den Lebensweg des Kindes bereits im Kindergarten, bereitet es auf das Leben da draußen vor und stellt bereits möglichst viele Weichen. Das verunsichert Eltern enorm und verleitet sich auch dazu, in einer Art auf ihre Kinder zu reagieren, wie sie es vielleicht von sich aus gar nicht tun würden. Nicht nur Eltern untereinander tun sich da meist keinen Gefallen, auch in den Medien wird das Thema Erziehung immer kontrovers diskutiert. Häufig wird Menschen dabei vermittelt, dass ein bedürfnisorientierter Umgang unweigerlich zur Folge hat, dass man sich einen kleinen Tyrannen heranzieht. Das kann ja niemand wollen. Ich hatte früher oft das Gefühl, ein Teil meiner Elternschaft besteht darin, es so zu machen, dass ich niemandem Anlass zur Kritik geben kann. Funktioniert natürlich nicht. Aber ich war als Mutter in den ersten Jahren wenig selbstbewusst.

Aber gerade dadurch bot ich die ideale Angriffsfläche. Ich hasste es. ErgotherapeutInnen, die mir im voll besetzten Wartezimmer Dinge sagten wie: „Sie müssen mit ihrem Kind mehr in die Konfrontation gehen!“ oder ÄrztInnen, die die Festhaltetherapie (ausgeführt an meinem Kind) damit rechtfertigten, dass dies eine Therapieform für Kinder sei, die keine Grenzen kennen. Von allerlei Tipps aus dem privaten oder familiären Umfeld mal ganz abgesehen. Das war ja schon fast Alltag.

Ich dachte jahrelang, dass ich alles grundlegend falsch mache. Niemand bestärkte mich. Manche Eltern brauchen das nicht, ich hätte es gebraucht. Dabei müsste ich es als Sozialpädagogin mit Montessori-Diplom doch besser wissen. Viele Situationen bei ÄrzteInnen, ErgotherapeutInnen, LehrerInnen oder einfach auch im privaten Umfeld empfand ich als demütigend. Nicht nur, dass man meine Leistung als Mutter wertete, auch mein Kind wurde dadurch als unerzogen, frech, bockig und dergleichen kategorisiert. Kinder werden sehr schnell, auch ohne Diagnose, in eine Schublade gesteckt. Sie sind dann eben herausfordernd, und diejenigen, die von ihrem Umfeld als anstrengend empfunden werden.

Ich versuchte alles mögliche im Umgang und sicher tat ich meinem Kind dabei oft Unrecht. Wenn wir  beispielsweise mal wieder eine Phase mit vielen Beißattacken hatten, dachte ich, ich müsste nur streng sein und durchgreifen, dann passiert das nicht mehr. Damals nahm mich niemand an die Hand (sinnbildlich) und erklärte mir, dass Verhalten immer einen Grund hat, und dass das Verhalten ein Symptom dafür ist, wie es dem Kind geht. Selbst in einigen Autismus-Selbsthilfegruppen liest man dann Dinge wie: „Bei mir würde es das nicht geben.“ Heißt im Endeffekt auch nichts anderes, als dass man sein Kind nicht im Griff hat. Man muss es leider so sagen: Das sind dann häufig auch die Gruppen, in denen sich über die Kinder in der Hauptsache ausgelassen wird. AutistInnen sind in solchen Gruppen meist weniger aktiv oder werden klassisch ignoriert.

Rückblickend hat mein Kind so lange gebissen, wie er mit seiner Umwelt und den Anforderungen überfordert war. Es war ein Verteidigungsmechanismus, und es stand keine andere Strategie zur Verfügung.

So erging es uns mit vielen Dingen. Dabei agierten wir als Eltern oft verunsichert und auch nicht wirklich berechenbar. Wir versuchten etliche Strategien und waren dabei doch kaum authentisch. Damit gaben wir unserem Kind erst recht nicht die Sicherheit, die es brauchte, mal ganz abgesehen davon, dass wir noch kein Gespür für autistische Bedürfnisse hatten. Das ist heute anders, aber auch das war ein Prozess.

 

Heute ist Verstehen für mich immer der erste Schritt dahin, ein Problem anzugehen. Dabei finde ich auch wichtig, das Kind mit seinem Verhalten nicht als Problem anzusehen.

Das lernte ich zuerst durch den Umgang mit anderen AutistInnen. Niemand aus dem pädagogisch-/therapeutischen Bereich vermittelte mir in den ersten Jahren diese Sichtweise. Dort ging es immer nur darum, ein Verhalten „abzustellen“.

Auch für mich war das anfangs alles andere als leicht. Im ersten Moment ist es nämlich nichts anderes, als sonst. Auch hier trifft man wieder auf Menschen, die jede Menge gute Ratschläge verteilen, und das auch noch meist wenig „diplomatisch“. Der Gedanke, dass man also wieder nur von Menschen umgeben ist, die meinen, es besser zu wissen, kann dabei schnell entstehen. Das alleine ist schon nicht so einfach, zudem muss man sich unter Umständen auch eingestehen, aufgrund des Drucks von außen, oder weil man grundsätzlich von der Einstellung her anders veranlagt ist, dem eigenen Kind keine Hilfe oder Stütze gewesen zu sein. Manchmal gibt man auch unbewusst internalisierte Muster weiter, die bei genauerem Hinsehen alles andere als hilfreich sind. Viele Menschen haben den Leistungsdruck und Anpassungsgedanken sehr stark verinnerlicht und es ist nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen. Sich unter Umständen dessen bewusst zu werden, kann ein schmerzhafter Prozess sein. AutistInnen weisen in Selbsthilfegruppen oft sehr deutlich darauf hin, welche ihrer Erfahrungen traumatisch waren und wie Eltern durch ihr Verhalten diese Triggerpunkte drücken, da sie solche Dinge immer wieder reproduzieren. Gerade der Wunsch vieler Eltern, dass ihre Kinder gut durchs Leben gehen und etwas erreichen, schlägt oft darin um, dies über eine möglichst maximale Anpassung zu erreichen. Die Vorstellung, sich nicht den gängigen Normen und Mustern zu unterwerfen, wirkt auf manche völlig absurd. Wieder andere können den Gedanken zwar nachvollziehen, haben aber Ängste, diesen Weg zu beschreiten. Die Prioritäten anders zu setzen und auch alternative Wege als gangbar zu erkennen, ist dabei ein Prozess, den viele aber früher oder später gehen müssen.

 

Ich weiß, durch Rückmeldungen, dass viele meinen Content auf diesem Blog als hilfreich empfinden. Auch wenn man das nicht merken sollte, aber dass ich an diesem Punkt angekommen bin, ist wirklich noch gar nicht so lange her. Ich war auch mal eine Mutter, die nicht den Leidensdruck des Kindes erkannte, und vor allem auf den eigenen Stress fokussiert war. Ich hatte sehr wenig Gespür für die Bedürfnisse meines Kindes. Zwar spürte ich eine Abneigung gegen jegliche der Anpassung an gesellschaftliche Normen, hatte aber noch viel zu große Ängste, mich von klassischen Vorstellungen und Zielen zu verabschieden. Ich hatte Anpassungsdruck und Perfektionismus absolut verinnerlicht, hatte aber schon eine Ahnung davon, dass das auch mir alles andere als gut tat.

Aber es gab einen Punkt, an dem wir so nicht mehr weitermachen konnten. Wir wollten uns dem nicht mehr unterwerfen, denn wir hatten ein Kind in der absolut schlimmsten Krise und dahin hat uns auch die Vorstellung und der Druck durch andere gebracht, dass auch autistische Kinder dies oder jenes lernen müssten, und sich eben anzupassen hätten, weil die Gesellschaft darauf keine Rücksicht nehmen könnte.

Letzteres ist ein klassisches Argument all jener Menschen, die sich im Grunde dieser Sichtweise ergeben. Unsere Gesellschaft sei eben nicht so, und man könne da keine Akzeptanz oder gar Rücksicht erwarten. Heißt im Umkehrschluss, dass wir es also akzeptieren, dass sehr viele autistische Kinder aus ihrer Kindheit traumatisiert und mit einigen komorbiden Diagnosen hervorgehen? Weil man nicht erwarten kann, dass diese Gesellschaft auch nur ein wenig Rücksicht nimmt? Diese Frage muss man sich als Eltern stellen. Will ich das für mein Kind, nur damit am Ende ein gesellschaftlich zufriedenstellendes „Ergebnis“ steht?

Wenn man erst einmal an diesem Punkt angelangt ist, ist es gar nicht mehr so schwer, für sich zu entscheiden, andere Wege zu beschreiten. Und genau dabei helfen erwachsene AutistInnen. Auch wenn es durchaus anfangs zermürbend erscheinen mag, und man den Eindruck bekommt, dass man es auch wieder nur mit einem Haufen Menschen zu tun hat, die einem nichts anderes reflektieren, als dass man alles falsch macht.

Ich weiß, dass diese Art Kontakt nicht für alle Eltern das ist, was sie sich vorstellen. Gerade wenn sie eigentlich nichts verändern möchten, und es auch bequem ist, das Problem beim Kind zu sehen, bleiben diese Eltern nicht lange in unseren Selbsthilfegruppen, sondern suchen sich vielmehr solche, in denen sie mit anderen Eltern darüber in Austausch gehen können, wie schwierig ihr Alltag ist. Wie schwierig dieser Alltag für ihre Kinder ist, spielt erfahrungsgemäß dann eher eine untergeordnete Rolle. Die Anforderungen an das Kind und dessen Bedürfnisse anzupassen, ist nicht von allen Eltern gewünscht. Der Wunsch nach Bestätigung durch andere Eltern ist dann oftmals größer. Auch die Vorstellung, wer in einer Familie das Sagen hat, und wer sich unterzuordnen hat, spielt dabei eine große Rolle. Die Akzeptanz autistischer Bedürfnisse beispielsweise nach bestimmten Abläufen oder sensorische Besonderheiten, wie sie u.a. bei der Körperpflege eine Rolle spielen, haben aber null gemein damit, dem Kind einfach seinen Willen zu lassen. Was es damit auf sich hat, und wie wichtig die Achtung solcher Grenzen ist, können autistische Menschen allerdings häufig so plastisch erklären, dass auch für neurotypische Eltern das Thema bzw. die Problematik nachvollziehbar wird. Diesen Lerneffekt wird man nicht erfahren, wenn man ausschließlich mit anderen Eltern autistischer Kinder in Austausch geht.

Aber so sehr man eben davon profitieren kann, weiß ich auch, wie schwer es fallen kann, sich darauf einzulassen. Ich selbst vergesse manchmal, und zugegebenermaßen fällt mir da auch der Perspektivwechsel schwer, dass nicht jedeR sich am gleichen Punkt dieses Prozesses befinden kann. Für mich sind die Dinge so klar, autistisch zu denken und zu verstehen ist für mich mittlerweile wie meine Muttersprache, dass ich oft nicht erkenne, warum Außenstehenden die gleichen Dinge verborgen bleiben. Ich will Eltern nicht überfordern, aber ich muss gestehen, dass ich hin und wieder vergesse, wie schwer sich manche Eltern tun können. Hinzu kommt, dass ich sehr oft tatsächlich auch angetriggert bin, wenn ich von einem autistischen Kind lese, das offensichtlich großen Leidensdruck hat und ich mir einfach zu gut vorstellen kann, wie es diesem Kind geht, aber das Umfeld der Meinung ist, dass das Kind da eben durch muss. Mit den Folgen muss das Kind leben. Und viele von uns wissen, was das bedeutet.

Aber: Die Anerkennung und Wahrung autistischer Bedürfnisse bedeuten eine Entscheidung für das autistische Kind und dessen seelische Gesundheit.

Welt-Autismus-Tag – Meine Gedanken

Jährlich am 2. April wird wer begangen, der Welt-Autismus-Tag. Eingeführt 2007 durch die Vereinten Nationen, fand er zum ersten Mal 2008 statt. Ziel sollte es sein, Barrieren sichtbar zu machen und diese aufzubrechen.

Was an sich nett gedacht ist, finde ich in der Umsetzung insgesamt eher weniger gelungen.

Dabei will ich ihn gar nicht komplett so negativ sehen, aber das, was aus diesem Tag mittlerweile geworden ist, kann ich aus autistischer Sicht nicht befürworten.

Ich versuche das so zu erklären, dass sich niemand angegriffen fühlen muss, niemand soll dadurch beschämt werden. Vielen sind diese Dinge einfach nicht bewusst, und es steckt kein böser Wille dahinter. Ich selbst habe zu vielen Dingen meine Einstellungen überdenken und kritisch hinterfragen müssen. Das ist ein Prozess, bei dem aber auch niemand gezwungen ist, meine Sicht der Dinge zu übernehmen. Deswegen bitte ich diesen Beitrag als Einordnung der verschiedenen Aspekte zu sehen.

Wie gesagt, an sich ist die Idee des Welt-Autismus-Tages auf den ersten Blick nicht schlecht, leider wird er aber geprägt durch Aktionen, die unter anderem eindeutigen Bezug zur Organisation Autism Speaks haben. Öffentliche Gebäude werden beispielsweise blau angeleuchtet (das blaue Puzzleteil war das ursprüngliche Symbol von Autism Speaks, bevor man sich der Farbgebung der autistic Pride Bewegung (regenbogenfarben) bediente). Unter dem Motto „light it up blue“ werden verschiedene Aktionen geplant. Autismus-Zentren schmücken sich beispielsweise mit blauen Luftballons. Als autistische Person hat man den Eindruck, im April wimmelt es nur so von blauen  Puzzleteilen. Hersteller von Autism-Awareness-Produkten vertreiben in dieser Zeit besonders viele Designs mit blauen Puzzleteilen, meist unter dem Motto „in April wear blue“. Wo man hinsieht, alles steht unter dem Motto „light it up blue“. Es scheint fast so, als habe Autism Speaks diesen Tag für sich übernommen. Tatsächlich macht auch gerade in dieser Zeit die Organisation einige Aktionen, die vor allem Spenden generieren sollen, so finden beispielsweise Spenden-Läufe und verschiedene Marketing-Events statt.

Dabei ist es nicht so, dass Autism Speaks das hierbei gesammelte Geld Betroffenen und ihren Angehörigen zugute kommen lässt. 90% der Einnahmen fließen in die Öffentlichkeitsarbeit und vor allem in Forschung, die kein geringeres Ziel hat, als Autismus auszurotten. Immer wieder schockiert die Organisation mit Aussagen, die belegen, dass es im Grunde um eine Zukunftsvision ohne autistische Menschen geht. Weiterhin unterstützt die Organisation die sehr umstrittene Therapieform ABA und eine grundsätzlich defizitäre Sichtweise auf Autismus (alles nachzulesen im 100 Day Kit). Eltern werden darin bestärkt, dass sie Opfer des Autismus sind, der Besitz von ihren Kindern genommen hat. Eine alles andere als gesunde Sicht auf das eigene Kind. Mit dem vermeintlichen Leid von Eltern lassen sich viele Spendengelder generieren. Immerhin kommen so jährlich bis zu 60 Mio. $ zusammen. Autism Speaks prägt die Sicht auf Autismus in den USA, aber auch weltweit.

Autism Speaks ist auch (aber nicht nur) ein Grund, warum das Puzzleteil als Symbol für Autismus unter autistischen Personen mittlerweile immer mehr abgelehnt wird.

Dennoch wird dieses Symbol sehr medienwirksam eingesetzt, und ist letztendlich auch Bestandteil einer regelrechten Industrie. Kleidungsstücke, Schmuck und Accessoires werden unter dem Motto „Autism Awareness“ mit dem Puzzleteil und einem markigen Spruch versehen und für viel Geld unter die Leute gebracht. Eltern autistischer Kinder sind ein nicht zu unterschätzender Absatzmarkt. Dabei ist es nicht Awareness, also Bewusstsein, was wir wollen. Wir wollen echte Akzeptanz, Wertschätzung, Mitbestimmung, Selbstbestimmung, Teilhabe.

Das Puzzleteile ist nicht zuletzt auch kein Symbol, dass die Community sich selbst gewählt hat, wird aber inflationär für Autismus genutzt. Da es so präsent ist, ist es letztendlich auch eines der ersten Dinge, auf die Betroffene und ihre Angehörige auf der Suche nach Informationen stoßen.

Die Bedürfnisse autistischer Menschen rücken bei all dem immer mehr in den Hintergrund, während die Inszenierung von Organisationen die Oberhand gewinnt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema findet kaum statt. Das liegt sicher nicht immer daran, dass es nicht gewünscht oder unterstützt wird, sondern leider auch daran, dass im europäischen Raum diese Kritik noch recht neu ist. Zwar sind längst nicht alle therapeutischen Einrichtungen oder auch Angehörige bereit, das alles kritisch zu hinterfragen, immerhin müsste man dann auch den eigenen Umgang damit und mitunter auch die eigene Arbeit überdenken, aber vereinzelt ist die Bereitschaft dazu da.

Wenn wir mal ehrlich sind, müssen wir uns folgende Frage stellen: Was haben autistische Menschen tatsächlich von diesem Tag? Ändert sich dadurch irgendetwas in der Wahrnehmung der Menschen und dem Umgang mit autistischen Bedürfnissen? Was hat es mit Aufklärung über Barrierefreiheit zu tun, wenn Gebäude blau angestrahlt werden, und verschiedene Konzerne Autism Awareness Produkte an den Mann bringen?

Im echten Leben kann man bei einer Unterhaltung mit Außenstehenden (damit meine ich LehrerInnen, ÄrztInnen, TherapeutInnen, Schulbegleitungen…) innerhalb von Minuten ein ganzes Bullshit-Bingo füllen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine Studie zu Lebenszeitkosten von AutistInnen gibt. Das muss man sich mal vorstellen. Inklusion wird, wenn überhaupt, meist nur auf dem Papier praktiziert. Menschen wird Hilfe vorenthalten, weil andere Menschen meinen zu wissen, wie eingeschränkt jemand bei gleichzeitig vorhandenen Kompetenzen zu sein hat oder eben nicht. Viel zu oft müssen Betroffene den Klageweg gehen, um zu ihrem Recht zu kommen. Den Rest des Jahres scheint das kaum jemanden zu interessieren. Aber Hauptsache an diesem einen Tag geben sich Organisationen und Medien betroffen. Es fühlt sich für mich meist nicht echt an.

Natürlich gibt es sie auch, die Einrichtungen, Praxen und Schulen, die bereit sind, ganz unkonventionelle Wege zu gehen und mit autistischen Menschen in Austausch auf Augenhöhe gehen. Aber sie sind weit unterrepräsentiert.

Der ganze Tag bekommt daher für viele autistische Menschen einen negativen Beigeschmack, werden sie doch instrumentalisiert aber gleichzeitig kaum gehört. Mitbestimmung unter dem Motto #NothingAboutUsWithoutUs sieht jedenfalls anders aus.

Die autistische Community wird, verständlicherweise, in den letzten Jahren immer lauter, und fordert konsequent Teilhabe und vor allem Mitbestimmung ein. Gerade aber Autism Speaks blockiert diesen Austausch mit VetreterInnen der Community seit Jahren. Die Organisation zeigt im Umgang mit autistischen Menschen regelmäßig, worum es ihr geht oder eben nicht geht.

Da diese VertreterInnen bis vor wenigen Jahren praktisch nicht gehört und ernst genommen wurden, sind daraus einige Gegenbewegungen entstanden:

Die Community wird dabei immer selbstbewusster und steht häufig breit aufgestellt für sich ein. Vor allem auch online kann hier eine große Reichweite erzielt werden. „Neulinge“ auf dem Gebiet können unter einschlägigen Hashtags schnell Kontakt und tatsächlich auch Hilfe bekommen. Man ist vernetzt und kann so schnell eine große Menge an autistischen FürsprecherInnen erreichen, die sich gegenseitig unterstützen und so zum einen große Aktionen planen, aber auch kritische Themen in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. So geschah es beispielsweise vor der Premiere von Sias Film „Music“ oder aber auch als die Influenzerin Mika Stauffer ihren autistischen Adoptivsohn (den sie zuvor medienwirksam in ihre Familie einführte) kurzerhand abschob, als dieser für sie „unangemessenes“ Verhalten zeigte. Der autistischen Community und ihrem konsequenten Einstehen füreinander ist es zu verdanken, dass die Öffentlichkeit überhaupt auf diese Themen aufmerksam wurde.

Jetzt heißt das alles nicht, dass man diesen Tag nicht begehen muss, aber eine kritische Auseinandersetzung damit ist mehr als überfällig. Vor allem muss man endlich autistische Menschen mitbestimmen  lassen und mit ihnen in den Austausch gehen darüber, welche Barrieren ihnen im Alltag begegnen, wo und wie sie Diskriminierungserfahrungen machen und wie sie sich ihre Teilhabe im Alltag wünschen.

Angehörige aber auch Organisationen können in dieser Zeit ihre Solidarität ausdrücken, indem sie beispielsweise die selbstgewählte Symbolik der autistischen Community verwenden: Das Infinity Symbol in regenbogenfarben (die verschiedenen Farben symbolisieren hierbei das Spektrum, das so groß und vielfältig ist, wie es autistische Menschen gibt), oder auch in rot (als Gegenpol zu „light it up blue“ wird hier der Hashtag #redinstead genutzt) bzw. gold (das chemische Symbol für Gold au steht hierbei für die ersten beiden Buchstaben des Wortes „autistic“, daher auch die Verwendung des Kürzels Âû in Online Namen. Passend dazu beispielsweise die Aktion „our golden moment“ als Antwort auf den Weltautismustag, seit 2020). Anlässlich des Weltautismustages schließen sich autistische FürsprecherInnen zusammen, um laut und unbequem aber respektvoll für autistische Rechte einzustehen, denn autistische Rechte sind Menschenrechte.  

Auch ist es hilfreich, kritische Beiträge autistischer FürsprecherInnen zu teilen und für das Thema in Einrichtungen, Familien und generell gesellschaftlich zu sensibilisieren. Denn wenn wir bedenken, welche Organisationen und welche Sicht auf Autismus immer noch den Umgang mit autistischen Menschen prägen, müssen wir lauter und noch präsenter werden. Helft autistischen Menschen dabei und seid solidarisch. Steht denjenigen bei, die Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren. Nehmt autistische Menschen ernst, die den Umgang mit Autismus kritisieren, auch wenn das bedeutet, sich selbst hinterfragen zu müssen. Für Außenstehende sind diskriminierende Strukturen nicht immer offensichtlich, genauso wenig sind es die eigenen Privilegien. Beides sollte, meiner Ansicht nach, mehr in den Fokus gerückt werden, wenn man sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Es reicht eben nicht, einmal im Jahr Artikel oder Dokus zu veröffentlichen, die individuelle Lebens- oder Leidensgeschichten erzählen. Erst recht nicht reicht es, ein Fachbuch gelesen oder in Studium oder Ausbildung mit Autismus konfrontiert worden zu sein. Das hat nichts mit der Lebenswirklichkeit autistischer Menschen zu tun. Wer wirklich verstehen möchte, muss autistischen Menschen zuhören und sollte die eigene, nicht-autistische Perspektive nicht über die autistische stellen.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen diesen Tag, aber die Umsetzung empfinde ich oftmals mehr als unglücklich und im Grunde auch am Thema vorbei. Es geht doch eigentlich nicht mehr um Aufklärung oder mehr Sichtbarkeit von AutistInnen und deren Barrieren im Alltag. Der Welt-Autismus-Tag ist für mich derzeit meist nichts anderes als eine Inszenierung und Mittel zum Zweck der Spendengenerierung über die Köpfe und Bedürfnisse autistischer Menschen hinweg. Diese Diskrepanz zwischen dem Ziel, AutistInnen mehr Teilhabe zu ermöglichen, und der aktuellen Ausrichtung, ist eine der diskriminierenden Strukturen, die es abzubauen gilt.

Bei aller Kritik, soll das keinesfalls die Mühen derjenigen schmälern, die den Alltag autistischer Menschen ein Stück weit einfacher und besser machen. Diese Menschen gibt es tatsächlich auch. Zusammenarbeit kann durchaus gelingen und jede/r kann davon profitieren.

Zuletzt hier ein paar Beispiele für Organisationen, die im Sinne von AutistInnen für AutistInnen arbeiten:

ASAN (Autistic Self Advocacy Network)

AIM (Autistic Inclusive Meets)

A4A (Autistics for Autistics)

awn network (autistic women & nonbinary network)

White Unicorn e.V.

Unter diesen Hashtags findet ihr eine Fülle an Beiträgen autistischer AktivistInnen, deren Blogs ich nur empfehlen kann.

#redinstead

#LightItUpGold

#AutismAcceptance

#PeopleNotPuzzels

#NothingAboutUsWithoutUs

#AutisticPride

#actuallyautistic

#AskingAutistics

#ProudlyAutistic

#SayNoToABA

#TakeOffTheMask

(Anmerkung: dieser Text spiegelt meine persönliche Sichtweise wider. Ich bin mir bewusst, dass diese nicht von allen AutistInnen und deren Angehörigen so geteilt wird. Das erwarte ich auch nicht. Mir ist die Sensibilisierung für bestimmte Strukturen, die ich als diskriminierend wahrnehme, wichtig. Dieser Beitrag ist kein Angriff sondern dient der Aufklärung, wie ich sie befürworte.)

Verinnerlichte Abwertung – internalisierte Diskriminierung und Täterintrojekte

  • Das bildest du dir ein
  • Stell dich nicht so an
  • Sei nicht so empfindlich
  • Heulsuse
  • Du bist immer so anstrengend
  • Du bist zu laut
  • Du wiederholst dich ständig
  • Du nervst – Reiß dich mal zusammen
  • Kannst du nicht so wie andere sein
  • Du bist faul
  • Du benutzt deine Diagnose als Ausrede
  • Krankheitsgewinn
  • Du bist selbst schuld, wenn es dir so schlecht geht
  • Du bist so empfindlich
  • Du bist nicht schlau genug
  • Das schaffst du nie
  • Du bist dick, hässlich usw. – Du gehst so komisch
  • Du bist immer so emotional
  • Du redest zu viel
  • Das bildest du dir ein

Am Wochenende habe ich einen Artikel zu verinnerlichten Abwertungen gelesen, sogenannte Täterintrojekte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir vor allem der Begriff der internalisierten Diskriminierung bekannt. Bei beidem geht es im Grunde um ein ähnliches Phänomen. Man verinnerlicht die Abwertung, die man von anderen Menschen erfährt.
Täterintrojekte geschehen vor allem durch seelische oder körperliche Gewalt im nahen Umfeld, also innerhalb des familiären Umfeldes, in Beziehungen und engen Freundschaften. Permanente Abwertung, fehlende Akzeptanz, immer wiederkehrende Kritik ganz konkret an einer Person, emotionale Bestrafung oder Erpressung, können dabei genauso traumatisierenden sein, wie körperliche Gewalt.
Internalisierte Diskriminierung passiert vor allem durch Diskriminierungserfahrungen, beispielsweise innerhalb einer Klasse, Arbeitsgruppe, aber auch durch strukturelle oder institutionelle Diskriminierung. Ich denke, gerade innerhalb von Gruppen betrifft dies ganz konkret auch Mobbingerfahrungen. Diese lassen sich bei Menschen mit Behinderungen vor allem auch auf spezifische Aspekte der Behinderung zurück führen, die dann vom Gruppenverband gegen Betroffene genutzt werden. Ein klassisches Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung heraus war, dass man mich aufgrund meiner Kommunikation (zb. Wiederholungen in den Themen), sozialen Unsicherheit und meiner Reaktionen mobbte.
Die Menschen, die sich so verhalten, können aus den unterschiedlichsten Kreisen kommen. Die TäterInnen sind Eltern, Geschwister, FreundInnen, KlassenkameradInnen, LehrerInnen, KollegInnen, LebenspartnerInnen, TherapeutInnen, behandelnde ÄrztInnen.

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit meinen eigenen, inneren Mechanismen, insbesondere solche, die in emotionalen Triggersituationen, emotionalen Overloads oder Meltdowns automatisch aktiviert werden.
Mir ist aufgefallen, dass ich dabei meiner Wahrnehmung mir selbst gegenüber nicht trauen kann, da sie geprägt ist von beiden oben genannten Phänomenen.
Alle Sätze, die ich oben als Beispiel aufgeführt habe, wurden mir mehr oder weniger über drei Jahrzehnte in verschiedensten Situationen immer wieder ins Gesicht gesagt. Manches wurde mir immer wieder im häuslichen Umfeld reflektiert, anderes habe ich selbst in Therapiesitzungen zu hören bekommen. Vieles erlebte ich in über dreizehn Jahren Mobbing an der Schule, aber auch in einer Beziehung. Die Folgen sind vielfältig. Wie soll jemand beispielsweise ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, wenn er oder sie ein Leben lang Demütigung, Abwertung und Ablehnung erfährt? Wie soll jemand so lernen, im sozialen Umgang bzw. Miteinander Sicherheit zu erlangen?

Einige dieser Folgen habe ich bereits in einem Artikel vor einiger Zeit beschrieben. Hier geht es mir aber, wie erwähnt, explizit um die Verinnerlichung dieser Abwertung.
Fühle ich mich beispielsweise verletzt, dann ist im ersten Moment das Gefühl da, und im nächsten Moment fange ich an, mich dafür zu kritisieren, dass ich so empfinde. Ich übernehme dann jegliche Aussage mit diesem Bezug, die mir wegen meiner Gefühle entgegengebracht wurde. Ich werte meine Gefühle und Verletztheit ab, indem ich mich als empfindlich einordne, als Heulsuse. Ich empfinde meine Reaktion als übertrieben und nicht gerechtfertigt. Ich frage mich, ob ich mir Dinge nicht tatsächlich einbilde. Das Problem dabei ist, dass ich weder der einen noch der anderen Empfindung wirklich trauen kann. Die erste Empfindung werte ich direkt ab und entziehe ihr damit jegliche Berechtigung. Die folgenden Gedanken dazu, also dieser Mechanismus der verinnerlichten Abwertung, kann ich als solche einordnen. Ich weiß genau, wie meine Gedanken in dieser Hinsicht funktionieren, ich erkenne das Muster mittlerweile relativ schnell. Das Wissen darum erleichtert mich schon sehr, allerdings fehlt mir jegliches Gespür dafür, wie ich Dinge einordnen soll. Ich traue meiner Wahrnehmung hinsichtlich dessen nicht. Permanent kreisen meine Gedanken in einer Endlosschleife darum, was jetzt stimmt. Meine erste emotionale Reaktion oder das negative Muster, das meine Emotionen abwertet. Es ist schon paradox, weil ich so sehr über diese Muster reflektieren kann und trotzdem gelingt mir keine „unabhängige“ Einordnung. Schlimmer noch, der Gedanke, dass „sie“ recht hatten mit all dem, ist vorherrschend. Ich übertreibe also, bilde mir Dinge ein, stelle mich mal wieder an, bilde mir Dinge ein…(verinnerlichte Abwertung).

Ich kann keine meiner Reaktionen, auf die in der Vergangenheit oben genannte Aussagen folgten, vernünftig einordnen. Das fängt schon damit an, dass ich mich unwahrscheinlich dafür schäme, wenn ich bei einem Film weinen muss. Und das muss ich sehr oft. Ich weine generell sehr häufig. Ich versuche es immer zu unterdrücken, was sofort körperliche Overload-Symptome auslöst. Herzrasen, ein Gefühl von Nadelstichen auf der Haut, Hitzewallungen…
Schon als Kind musste ich oft weinen, häufig aus Wut oder Verzweiflung heraus, wahrscheinlich war es der ein oder andere Meltdown, der aus mir herausbrach. In der Schule wurde ich deswegen gehänselt und im häuslichen Umfeld nutzte man dies häufig gegen mich. Mein Impuls war immer zu flüchten, aber ich wurde gezwungen „da“ zu bleiben und mir Tiraden über mein Verhalten anzuhören. Ich empfinde weinen vor anderen Menschen als unglaublich demütigend für mich. Gleichzeitig kritisiere ich mich innerlich dafür, dass ich so emotional bin und mich nicht unter Kontrolle habe. „Stell dich halt nicht immer so an…“
Das könnte ich aufgrund der oben beschriebenen Beispiele jetzt endlos fortführen.

Sehr häufig wurde im schulischen Umfeld oder auch von Freund:innen meine Art, ja mein ganzes Wesen kritisiert. Ich sei anstrengend, wiederhole mich zu oft, bin zu laut, lache zu viel und vor allem zu laut. Meine Themen interessierten die anderen ohnehin nicht. Jedesmal, wenn ich heute im Kontakt mit anderen Menschen bin, sind da diese Zweifel, die mir einreden, dass man mich gerade als sehr anstrengende Person wahrnimmt. Permanent bin ich unsicher, wie ich auf andere wirke. Das ist bei mir ein Grund, neben der visuellen Ablenkung, warum ich Menschen ungern in die Augen oder ins Gesicht schaue. Ich analysiere dann permanent deren Reaktionen und das lenkt unwahrscheinlich ab. Das Ganze geht so weit, dass ich mich sogar wundere, warum Menschen mit mir befreundet sein wollen. In einem Bewerbungsgespräch wurde ich einmal zu meinem positiven letzen Arbeitszeugnis befragt. Meine Antwort war: ich weiß im Grunde auch nicht, wie die dazu kommen. Tatsächlich ist es so, wenn Menschen mich oder meine Leistung positiv werten, dass ich ihnen nicht glauben kann. Schließlich gab es ja so viele andere Menschen vorher, die das Gegenteil behaupteten.

Autistische Menschen sind generell vulnerabel dafür, Opfer von Mobbing, Ausgrenzung oder psychischer Gewalt zu werden. Auch sind sie durchaus häufig Opfer narzisstischer Menschen . Es kommt beispielsweise auch immer wieder vor, dass unter Geschwisterkindern nur eines der Kinder durch einen oder beide Elternteile psychische Gewalt erleben muss. Autistische Menschen berichten häufig davon, wie sie Opfer von Mobbing, psychischer oder auch körperlicher Gewalt wurden. Autistische Kinder erleben 4-5 mal häufiger Gewalt oder Missbrauch, und sind 3-4 mal häufiger Opfer von Mobbing, als neurotypische Kinder.

Aber warum ist das so? Lässt sich das einfach damit erklären, dass sie durch ihre Neurodivergenz schnell zum Außenseiter und damit zum potenziell leichten Opfer werden?
Ich versuche das aus meiner Sicht zu erklären:
Man spürt als Kind sehr wohl, dass man anders ist, als andere Kinder. Man spürt, dass Beziehungen und Freundschaften „auf wackeligen Beinen“ stehen. Also versucht man einerseits, sich so gut es geht anzupassen. Andererseits ist man dankbar, wenn man überhaupt dabei sein kann. Unter Umständen merkt man dann nicht einmal, was mit einem passiert. Man ist dabei, und das ist dann schon mal ein Erfolg. Rückblickend war da aber immer das Gefühl, zwar mittendrin, aber doch nicht dabei zu sein. Man kann sich auch inmitten einiger Menschen sehr einsam fühlen. Man wehrt sich nicht, sondern lässt Dinge mit sich geschehen. Vielleicht ist man nicht mal in der Lage zu sehen, was gerade passiert. Aber, die Hoffnung stirbt ja bekanntermaßen zuletzt, also versucht man es immer wieder. So bietet man sich selbst quasi schon freiwillig als Opfer dar.
Ein weiterer Aspekt ist, dass man Signale falsch deutet oder nicht erkennt. Wenn man bedenkt, dass viele autistische Menschen Probleme mit dem Erkennen von Mimik oder Intentionen ihres Gegenübers haben, ist das nicht verwunderlich. Dadurch wird man anfällig für manipulatives Verhalten. Man wird häufiger ausgenutzt, weil die Absichten schwer oder nicht erkennbar sind. Gerade narzisstische oder anderweitig toxische Menschen suchen sich ihre Opfer danach aus, wie leicht sie sie für sich manipulieren können. Es ist also kein Wunder, dass man als autistischer Mensch anfälliger ist für diese Art psychischer Gewalt.
Das macht eben auch vor innerfamiliären Verhältnissen nicht Halt. Immer da, wo toxische Mechanismen und Strukturen vorherrschen, wird das vermeintlich schwächste Glied zum Opfer. In nicht wenigen Familien gilt, dass man möglichst angepasst und funktionierend durch den Alltag zu kommen hat. Negativ aufzufallen oder permanent den „Frieden“ durch herausforderndes Verhalten zu gefährden (aus Sicht der toxischen Person), hat in der Regel Konsequenzen. Negative Rückmeldungen, Abwertungen, emotionale Bestrafung oder Erpressung gehören zum Muster dieser toxischen Mechanismen. Da man auch hier möglichst wenig negativ auffallen möchte, oder es zumindest versucht, und gleichzeitig sich nach Anerkennung und emotionaler Geborgenheit sehnt, ist man auch hier besonders vulnerabel für diese Form der psychischen Gewalt.
Gepaart mit der permanenten Verunsicherung, weil man sich ohnehin nirgends wirklich zugehörig sieht, und wenn diese toxischen Muster über einen längeren Zeitraum bestehen, ist es nicht verwunderlich, warum auch gerade autistische Menschen diese permanente negative Abwertung verinnerlichen.

Vor allem bei autistischen Menschen kommt noch ein ganz wesentlicher Aspekt hinzu: die Wahrnehmung. Ja, unsere Wahrnehmung bzw. unsere Reizverarbeitung ist eine andere, als die neurotypischer Menschen. Diesen Bereich unseres Autismus allerdings gegen uns zu verwenden, ist schon eine perfide Vorgehensweise. Das passiert besonders bei Aussagen wie „das bildest du dir ein“ oder „du reagierst so sensibel“ oder auch „du übertreibst immer“. Damit wertet man unser Erleben nicht nur ab, sondern man stellt es ganz offen als falsch hin. Man redet uns ein, dass alles nicht echt ist. Weitere Aussagen wie „da muss man jetzt nicht weinen“ oder „das ist doch nicht schlimm“, beschämen uns in unserer Reaktion.
Es ist also kein Wunder, dass autistische Menschen teilweise sehr stark maskieren und nur im absolut gesicherten Umfeld (wenn überhaupt) so reagieren, wie sie ihren eigentlichen Zustand empfinden. Es ist weiter absolut nachvollziehbar, dass man beginnt, die eigenen Empfindungen wegzudrücken, auszuschalten. Der Wahrnehmung darf man ja nicht mehr trauen. Gerade viele spät diagnostizierte Autist:innen berichten, dass sie kaum Zugang zu sich und ihren Empfindungen haben und dies nun wieder mühsam erlernen müssen.
Wenn mir heute eine Person, die um meine Diagnose weiß, etwas derartiges kommunizieren würde, dann wäre das für mich eine ganz klare Grenzüberschreitung.

Wie gehe ich im Alltag damit um, um meine Gefühle besser einordnen zu können.

  • Ich beobachte Kommunikationsmuster. Ich kann sie von außen betrachtet sehr gut erkennen, allerdings gelingt es mir in einer akuten Situation noch nicht wirklich.
  • Ich habe vertraute Personen, die ich befrage, wenn ich bezüglich meiner Wahrnehmung verunsichert bin. Diese Personen wissen auch um meine Problematik.
  • Ich versuche eine neutrale Position einzunehmen und mir dabei ähnlich zu begegnen, wie engen Bezugspersonen.
  • Ich bestimme mittlerweile sehr genau selbst, wie mein Umfeld aussieht. Darin bin ich sehr konsequent geworden. Merke ich, dass mir jemand, auf welche Art auch immer, nicht gut tut, breche ich den Kontakt ab.
  • Ich gestehe mir zu, diese Probleme zu haben. Ich erkenne an, was mit mir passiert ist und welche Folgen das hat. Ich erkenne die Mechanismen und reflektiere regelmäßig meine Reaktionen.
  • Ich versuche, gut zu mir zu sein und zu verstehen, dass ich das verdient habe.
  • Ich muss es niemandem recht machen und versuche, meine Bedürfnisse zu erkennen und nicht immer hinter denen anderer anzustellen.

Wichtig: Internalisierte Diskriminierung und Täterintrojekte sind kein Teil meiner selbst. Sie gehören nicht zu mir, sondern zu dem toxischen Verhalten anderer Menschen. Ich kann und darf mich daher unabhängig davon betrachten!

Meine Autismus-Diagnose, wie es dazu kam und warum ich froh bin, sie zu haben

Mit 37 Jahren habe ich meine Autismus-Diagnose bekommen.

Oft wird man ja gefragt, warum man überhaupt eine Diagnostik anstrebt, welchen Sinn das jetzt überhaupt noch macht (gerade im Erwachsenenalter), oder was man sich davon verspricht (meine Intention erläutere ich weiter unten) . Man kann sich ja schließlich auch im Spektrum verorten und es damit gut sein lassen.
Ich selbst erkenne Selbstdiagnosen an. Die wenigsten Menschen sehen sich einfach mal so im Spektrum, sondern haben häufig einen langen Leidensweg hinter sich. Oft fehlt die Kraft für eine Diagnostik, oder auch man maskiert so stark, dass diese möglicherweise ohnehin negativ ausfallen würde. Das muss man erst einmal aushalten können. Zudem sind die Diagnosekriterien veraltet und auf Jungs bzw. Männer ausgelegt. Frauen im Spektrum fallen oft durch das Raster und erhalten eher Fehldiagnosen, wie beispielsweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eine Diagnostik ist immer defizitorientiert und pathologisiert autistisches Verhalten. Alles in allem sind das schon diskriminierende Strukturen. Im Erwachsenenalter die Diagnose Autismus-Spektrum zu erhalten, ist schon nahezu ein Privileg. Ich verstehe jeden, der das nicht durchlaufen möchte oder kann, oder aber auch einfach grundsätzlich eine Selbstdiagnose ausreichend findet.

Angst vor Stigmatisierung hatte ich keine, obwohl es diese durchaus gibt. Aber ich war und bin immer der Meinung, dass man Vorurteile nicht abbauen wird, indem man sich versteckt. Eine Gesellschaft kann nicht lernen, wenn Betroffene selbst nicht benennen können, worum es geht. Der Umgang von Betroffenen mit ihrer Diagnose hat immer eine Außenwirkung.

Grundsätzlich bin ich immer pro Diagnose. Im Normalfall ist es ja so, dass es für einen Verdacht bereits einige Gründe gibt. Entweder bei einem selbst oder dem eigenen Kind fallen einem Dinge auf, die sich in der Summe nicht anders erklären lassen. Häufig ist das auch mit einem gewissen Leidensdruck verbunden. Kinder haben oft schon Probleme im Kindergarten und auch dem häuslichen Umfeld. Spätestens in der Schule wird es für viele dann sehr schwierig, die Probleme häufen sich, teilweise kommt es bereits hier zu komorbiden Erkrankungen oder Traumatisierungen. Dennoch kann es auch bei Kindern Jahre dauern, bis eine Diagnose gestellt wird.
Bei Erwachsenen ist die Diagnostik um ein Vielfaches schwerer, da es weniger Diagnosestellen gibt und sie häufig schon so stark maskieren, dass sie kaum als autistisch auffallen. Gerade Erwachsene haben aber nicht selten einen Leidensweg hinter sich, in dessen Verlauf bereits einige andere Diagnosen (häufig aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen) gestellt wurden. Mit zunehmendem Alter und steigenden Anforderungen im Alltag, kommt es häufig vermehrt zu Zusammenbrüchen und/oder autistischen Burnouts. Ich selbst habe vier chronische Erkrankungen, die alle zumindest indirekt durch zu viel Kompensation und Maskieren, aber auch durch meine Wahrnehmung getriggert werden. Nach meinem Studium bekam ich zwei sehr heftige Burnouts, seit dem zweiten bin ich dauerhaft arbeitsunfähig.

Früher dachte ich immer, dass eine Diagnose nicht notwendig wäre, wenn kein Leidensdruck bestünde. Und überhaupt muss man heutzutage ja nicht alles und jeden in eine Schublade stecken. Heute weiß ich, das passiert eh immer. Mit der Diagnose ist man in der Schublade „Autist“, ohne wird man schnell als schrullig, nervig, anstrengend, weinerlich, hysterisch… abgestempelt.
Es lässt sich nie absehen, welche Entwicklung jemand nehmen wird. Kommt es zu einer Krise, dauert es meist, bis man geeignete Stellen und Hilfen findet. Häufig gibt es lange Wartelisten und die Bearbeitung von Anträgen dauert oft auch einige Monate. Diese Zeit hat man während einer Krise nicht, das kann in solchen Fällen wirklich fatal sein. Sinnvoller ist es dann, wenn man bereits auf eine Diagnose zurückgreifen und zumindest das Hilfesystem schnell installieren kann. Zudem ist es gerade bei Kindern so, dass sie mit einem ganz anderen Selbstverständnis aufwachsen können, wenn sie eine Diagnose haben. Kinder spüren, dass sie „anders“ sind, und suchen den Fehler häufig bei sich. Eine Diagnose kann das abfangen. Zu wissen, was bei einem los ist, hilft ungemein. Außerdem hat ein Kind ein Recht auf dieses Wissen. Was es dann im Verlauf seines weiteren Lebens damit macht, kann es selbst entscheiden.

Mein Weg:

Bevor mein Sohn zur Welt kam, hatte ich immer eine ganz große Angst davor, dass es ihm in seiner Kindheit oft so gehen könnte, wie mir. Als Kind war ich oft sehr unglücklich und einfach grundsätzlich verunsichert. Ich entwickelte damals schon Schlafstörungen, soziale Ängste und hatte spätestens in der Pubertät meine erste Depression. Mit 16 bekam ich chronische Migräne.
An Autismus dachte ich zur Zeit meiner Schwangerschaft überhaupt noch gar nicht, und dennoch erscheint es mir im Nachhinein so, als wäre mir zu dieser Zeit zum ersten Mal bewusst geworden, dass da „etwas ist“. Es war nur noch nicht greifbar.
Alles, wovor ich Angst hatte, trat ein. Mein Sohn hatte oft Overloads und Meltdowns, und tat sich mit anderen Kindern immer schwer. Er war sensorisch sehr stark überempfindlich und entsprechend schnell überreizt. Ganz lange sah ich ihn und mich jedoch als hochsensibel an und ehrlich gesagt, suchte ich darin die Lösung für alle seine Probleme. Das Wort „Autismus“ löste anfangs noch sehr viele Ängste aus, und ich war schlicht noch unwissend auf diesem Gebiet.
Drei Jahre waren wir bei ÄrztInnen, bis mein Sohn im Alter von 6 Jahren diagnostiziert wurde. Wir mussten zu dieser Zeit auch Diagnosebögen über uns als Eltern ausfüllen, aber ich wehrte noch jeden Bezug zu mir ab, obwohl meine Bögen natürlich sehr auffällig waren. Damals wurde mir beispielsweise klar, dass ich Menschen nicht oder nur ungern in die Augen schaue.
Als dann bei mir der Gedanke reifte, dass ich doch ,wie mein Sohn, im Spektrum sein könnte, hatte ich zunächst große Angst vor einer Diagnostik, weil ich zum einen eine Ärztephobie habe, und zum anderen das Gefühl hasse, nicht ernst genommen zu werden. Ich dachte, ich hätte keine Kraft dafür. Aber je länger ich diesen Gedanken hatte, desto wichtiger wurde es mir. Ich erkannte mich so oft in meinem Sohn wieder, obwohl ich doch so ganz anders als er bin. Er war und ist in vielen Dingen expressiver, während mein Leidensdruck immer nach innen gerichtet war. Ich maskierte viel mehr als er und tue das heute noch.
Ich vernetzte mich schon früh mit anderen Eltern und vor allem AutistInnen. Ich erkannte so viele Parallelen, insbesondere zu denjenigen, die auch spät diagnostiziert wurden. Gerade der Austausch mit anderen autistischen Frauen bestärkte mich immer mehr, dass mein Verdacht stimmen musste.
Ich wollte eine offizielle Diagnose, einfach um in meinem Gefühl bestätigt zu werden (ich habe über die Jahre und durch permanente negative Rückmeldung internalisiert, dass ich meinen Instinkten nicht trauen kann). Ich hätte sonst immer das Gefühl gehabt, mir oder anderen etwas vor zu machen. Ich brauche solche Dinge für mich schwarz auf weiß, sonst kann ich sie nicht so klar annehmen. Nicht wegen fehlender Akzeptanz, sondern weil mein Kopf sich einfach weigert, den Umstand in seinem vollen Ausmaß zu erkennen und auch umzusetzen.
Zum Zeitpunkt meiner Diagnostik hatte ich keinen Druck, beispielsweise durch eine aktuelle Krise, schnell Hilfen bekommen zu müssen. Es ging dabei also lediglich um mein Gefühl und den Wunsch, es sicher wissen zu wollen.
(Wenn ich sage, dass ich keine Krise hatte, dann ging es mir dennoch nicht gut. Mein Alltag ist geprägt von Depressionen, einer vielfältigen Angststörung, und chronischen Schmerzen.)

Glücklicherweise konnte ich per eMail Kontakt zur Praxis aufnehmen, denn ein Telefongespräch kann sich als so herausfordernd darstellen, dass ich es einfach nicht erledigen kann. Insbesondere dann, wenn es um ein derart wichtiges Anliegen geht, baut sich bei mir extreme Anspannung auf.
Die Termine vor Ort in der Praxis waren sehr anstrengend für mich. Zum ersten Termin musste mich eine gute Freundin begleiten, weil ich Panik vor dem Termin und der Situation an sich hatte, aber auch, weil ich unbekannte Strecken nicht alleine fahren möchte und teilweise auch nicht kann. Irgendwo hinzufahren, wo ich mich nicht auskenne, ist eine absolute Horrorsituation für mich. Nichts, woran ich mich orientieren kann, alles ist fremd, zu viele visuelle Eindrücke in einer neuen Umgebung…ich war an diesem Morgen schon ein psychisches Wrack, bevor ich überhaupt ankam. Aber so konnte ich während des Termins auch weniger maskieren, was letztendlich gar nicht so schlecht war.
Ich hatte mich gut vorbereitet und mehrere Seiten geschrieben, was mir bei mir auffällt und worauf sich mein Verdacht begründet. Außerdem sollte ich Schul- und Arbeitszeugnisse, sowie Arztberichte von vorherigen Diagnosen mitbringen.
Es gab während der Termine mehrere Interviews, der Ados Test wurde gemacht und mein Lebenslauf besprochen. Ich musste viele Fragebögen ausfüllen, auch um andere Diagnosen auszuschließen. Einige dieser Bögen füllte mein Mann über mich aus.
Damals waren mir einige Dinge noch nicht bewusst, daher gab ich sie auch falsch an, zb. fiel mir erst einige Zeit später auf, dass ich Stimming betreibe, und das eigentlich immerzu. Es ist aber weniger offensichtlich, als es bei anderen AutistInnen der Fall sein kann, aber nicht muss. Dennoch bekam ich die Diagnose Autismus-Spektrum, geht es dabei doch immer auch um die Summe der „Auffälligkeiten“.

In den Wochen danach war ich von tiefer Wut und Panik erfüllt. Ich war total überfordert und wütend auf so viele Dinge, die mich in meinem Leben immer wieder an Punkte gebracht haben, an denen ich fast verzweifelte. Ich war wütend über meine anderen Diagnosen, die sich vielleicht hätten vermeiden lassen, oder in ihrer Ausprägung nicht so massiv ausfallen würden. Dieser Gedanke ließ mich lange nicht los. Ich konnte mich anfangs, bis auf dass ich erleichtert war, noch gar nicht über meine Diagnose freuen. Dieser Umstand hielt etwa sechs Wochen an.
Ich fing in der Folge an, alles abzulehnen, was von mir permanente Anpassung und Funktionieren über meine Grenze hinaus erforderte. Denn das war etwas, was mich gesundheitlich schließlich an diesen Punkt gebracht hat.
Meine Wahrnehmung verschärfte sich plötzlich noch einmal um ein Vielfaches. Ich spürte Overloads auf eine Art, die mich jedesmal, auch heute noch, in Panik versetzt. Was das anging, war es, als hätte sich mit der Diagnose und damit der Bestätigung, ein Schalter umgelegt. Ich erkannte auch, wo und wann ich in der Vergangenheit Meltdowns hatte.
Ich begann meine komplette Vergangenheit neu einzuordnen und mich auf eine völlig neue Art kennen zu lernen. Ich nahm mit einem Mal sehr stark wahr, wann ich überfordert war, wann ich maskierte, und wie sich Reize auf mich auswirken. Ich begann meine Grenzen zu akzeptieren und gestand mir zu, nicht zu funktionieren. In dieser Hinsicht könnte man fast sagen, ich habe Rückschritte gemacht. Denn Fakt ist, ich kann weniger aushalten oder mich anpassen, schwerer maskieren und funktionieren. Außerdem sind meine Ängste stärker geworden, was auch immer wieder mal zu Vermeidungsverhalten führt. Ich glaube aber eher, dass ich mir ihrer mehr bewusst geworden bin. Außenstehende Personen könnten durchaus den Eindruck gewinnen, dass es mir seither schlechter ginge.
Ich nehme all diese Dinge wahr, die sich früher immer nach innen richteten, und mir innerlich sehr viel Schaden zufügten. Aber geht es mir wirklich schlechter? Ich sehe das nicht so. Ich bin sehr froh, dass ich meine Grenzen eher wahrnehme und sie mir auch zugestehen kann. Das ist etwas, was ich davor nie konnte. Früher hatte ich permanent Zusammenbrüche, autistische Burnouts und regelmäßig depressive Episoden. Ich fühlte mich oft falsch, schon seit der Kindheit. Mit der Diagnose kann ich mit all dem meinen Frieden machen. Auch wenn ich mich heute manchmal noch so fremd fühle, dass es weh tut. Dieses Gefühl, nicht passen zu können oder zu wollen, überreizt mich emotional so stark, dass ich relativ schnell einen Meltdown erlebe.

Ich denke, ich bin seitdem ich meine Diagnose habe, für viele anstrengender, lauter und kompromissloser geworden. Ich habe mein Leben lang versucht, es allen recht zu machen, und das passiert mir auch heute noch häufig. Oft reagiere ich zu schnell, ohne vorher in mich hinein zu hören. Erst im Nachhinein fällt mir dann auf, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe, ob ich etwas möchte, oder nicht. Daran arbeite ich.
Trotzdem bin ich heute an einem Punkt, an dem ich viel besser für mich, meine Bedürfnisse und meine Identität einstehen kann. Und wenn das bedeutet, dass ich als anstrengend wahrgenommen werde, dann ist das so. Ich muss lernen, das auszuhalten.
Es geht mir damit also viel besser, als in meinem gesamten Leben vorher. Mein Leben bestand immer daraus, mich fehl am Platz zu fühlen, Anforderungen nicht gerecht werden zu können, funktionieren zu müssen (es aber nicht zu können), und so vieles nicht zu verstehen (was mir erst jetzt bewusst wird). Schlagartig gibt es für all das eine Erklärung. Das hilft mir, mich selbst zu akzeptieren. Ich fühle mich angekommen und ich bin jeden Tag dankbar dafür. Obwohl ich mich vorher schon im Spektrum sah, war mir nicht klar, was mir ohne die offizielle Diagnose fehlte. Das hätte ich im Vorfeld so nie abschätzen können. Aber ich verstehe jeden, der für diesen Prozess entweder die Kraft nicht aufbringen kann oder schlicht auch nicht will.

Ohne meinen Sohn wäre mir dieses Geschenk, denn als solches betrachte ich es, wahrscheinlich nie gemacht worden, er hat mir den Weg zur Autistin in mir gezeigt.

Was ich mir zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen wünsche

Eine Behinderung bezeichnet eine dauerhafte Beeinträchtigung der Teilhabe von Betroffenen in verschiedenen Bereichen des Lebens. Diese Teilhabe wird von der entsprechenden Diagnose beeinflusst, aber auch von strukturellen oder gesellschaftlichen Barrieren. Betroffene sehen sich also häufig nicht nur durch ihre Erkrankungen oder Behinderungen an der Teilhabe ge- oder behindert, sondern auch durch äußere, gesellschaftliche Einflüsse. Schafft man es, dass strukturelle Bedingungen auf Teilhabe ausgerichtet und Barrieren abgebaut werden, dann kann eine Behinderung als solche als weniger oder gar nicht mehr behindernd wahrgenommen werden. (Im Autismusbereich gibt es beispielsweise durchaus die Theorie, dass die Summe der Diagnostiken zurück gehen, wenn die Bedingungen bedürfnisorientiert angepasst werden. Je entspannter autistische Menschen leben können, desto weniger auffällig zeigen sich autistische Merkmale. Diese werden dann auch ohne Maskierung während einer Diagnostik weniger gezeigt, oder eine Diagnostik wird gar nicht nötig.).

Zum heutigen internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen habe ich ein paar Wünsche, wie ich mir den Umgang mit Behinderungen und Teilhabe vorstelle. 2008 traten zwar die Behindertenrechtskonventionen in Kraft, aber faktisch werden oft sie nicht oder nur wenig umgesetzt.

  • Das Recht auf Teilhabe steht nicht mehr zur Diskussion oder wird permanent ausgehebelt
  • Projekte im Bereich der Förderung von behinderten Menschen arbeiten auch immer zusammen mit Betroffenen und das auf Augenhöhe
  • Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass Barrierefreiheit nicht nur durch eine Rampe entsteht
  • Teilhabe ist für Betroffene nicht an Bedingungen geknüpft
  • Betroffene entscheiden selbst, wie sie sich ihre Teilhabe vorstellen
  • Betroffene werden von Institutionen proaktiv über ihre Rechte und Ansprüche aufgeklärt. Informationen sind barrierefrei zugänglich
  • Auch unsichtbare Behinderungen treten mehr und mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft
  • Menschen mit Behinderungen werden nicht mehr grundsätzlich als belastend für die Gesellschaft, ihre Angehörigen oder Partner gesehen
  • Ableismus jeglicher Art wird abgebaut
  • Menschen mit Behinderungen werden als selbstbestimmte Menschen wahrgenommen, das Recht auf Selbstbestimmung wird nicht abgesprochen
  • Betroffene und Angehörige müssen sich nicht mehr jede Hilfestellung erkämpfen oder aufwändig einklagen. Der Rechtsanspruch hat Bestand.
  • Betroffene werden bei Bildung, Arbeit, ärztlicher Versorgung, im Freizeitbereich oder der Wohnungssuche nicht mehr systematisch benachteiligt
  • Menschen, die in Einrichtungen leben, werden besser vor Übergriffen jeder Art geschützt. Der Umgang mit ihnen ist von Wertschätzung geprägt
  • Hilfeplanung erfolgt mit den Betroffenen und wird nicht über ihren Kopf hinweg entschieden
  • Der Behinderungsbegriff wird wertfrei genutzt.
  • Strukturelle und gesellschaftliche Barrieren werden abgebaut
  • Die Sicht der Betroffenen ist ausschlaggebend und wird nicht belächelt
  • Respektvoller Umgang mit Hilfsmitteln
  • keine Mobbing durch MitschülerInnen, LehrerInnen, KollegInnen, ArbeitgeberInnen, NachbarInnen uvm.
  • Weg von der Defizitorientierung hin zur Ressourcenstärkung
  • Hilfsmittel werden in ihrer Qualität nicht nach sozialen Aspekten bewilligt. Jedem Betroffenen sollten die gleichen, hochwertigen Hilfsmittel zur Verfügung stehen
  • Die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen werden nicht mehr gegeneinander auf- oder abgewertet
  • Ausgewiesene Behindertenparkplätze werden ausschließlich von denen genutzt, die einen Anspruch haben
  • Städte-, Verkehrs- und Gebäudeplanung erfolgt ausschließlich barrierefrei
  • Menschen, die auf diese Dinge hinweisen werden nicht mehr als hysterisch, anstrengend oder zu fordernd hingestellt
  • Das Bewusstsein für diese Problematik ist nicht auf einen Tag wie heute begrenzt

Und was ich in diesem Zusammenhang nicht mehr hören möchte:

  • Jetzt übertreib mal nicht
  • Irgendwann muss es auch mal gut sein
  • Ihr wollt immer eine Extrawurst
  • Inklusion hat eben auch ihre Grenzen
  • Heutzutage sieht man überall Diskrimierung
  • Nix darf man mehr sagen
  • Was das alles kosten soll
  • Du nutzt deine Behinderung als Ausrede
  • Inklusion ist eine Ideologie
  • Bei Inklusion bleiben gesunde/nicht behinderte Kinder auf der Strecke
  • Behinderte Menschen sind in Einrichtungen glücklicher
  • Die Gesellschaft kann nicht alles aushalten und mittragen

Um es mal ganz klar zu sagen, wir reden hier von einem Menschenrecht. Das ist nichts, wo man sich mal eben seiner individuellen Verantwortung entziehen kann und darf. Und trotzdem erfahren behinderte Menschen tagtäglich Diskriminierung und Exklusion, und das nicht nur durch andere Menschen. Die Strukturen im Hilfesystem tragen ebenfalls massiv dazu bei. Kaum eine betroffene Person kann ihre Ansprüche und Rechte ohne Widerspruch durchsetzen. Die Bedingungen sind teilweise so schlecht, dass Menschen zusätzlich behindert werden, Behinderungen oder Erkrankungen im Verlauf dadurch negativ beeinflusst werden, und zusätzliche komorbide Erkrankungen entwickeln. Das kann nicht unser Anspruch sein!

(diesen Beitrag hatte ich vor einigen Tagen auf meinem FB Blog veröffentlicht, hier mit einiger Verspätung)

Die Löffeltheorie – eine Erklärung, warum man nicht mehr kann, auch wenn es nicht so aussieht

Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum viele AutisInnen deutlich früher erschöpft, reizüberflutet, überarbeitet oder ausgebrannt sind. Wie den meisten betroffenen AutistInnen geht es vielen Menschen mit unsichtbaren Erkrankungen oder Behinderungen. Das Umfeld sieht keine Schmerzen, Depressionen, Schlafstörungen, Reizüberflutung und vieles mehr. Das Umfeld sieht häufig nur das, was Betroffene bereit sind zu zeigen. Und wenn sie dann an ihre Grenzen geraten, sich häufiger Ruhezeiten und Rückzug gönnen oder einfach komplett zusammenbrechen, kann das Unverständnis groß sein.

Um zu erklären, was unsichtbare Behinderungen oder Krankheiten im Alltag bedeuten, entwickelte die Lupus-Betroffene und Bloggerin Christine Miserandino eine Art Sinnbild, welches unter dem Begriff Spoon-Theory (Löffeltheorie) bekannt wurde.

Bei der Löffeltheorie schreibt man jeder Aktivität eine bestimmte Anzahl an Löffeln zu, die jeweils verbraucht werden. Hat jede Person zu Beginn eines Tages beispielsweise 25 Löffel zur Verfügung, muss man beachten, dass Menschen, die eine unsichtbare Krankheit oder Behinderung haben, aufgrund dessen im Vergleich für jede Aktivität ein Vielfaches an Löffeln verbrauchen. Je höher die individuelle Belastung (beispielsweise durch stärkere Ausprägung oder die Summe diverser beeinträchtigender Diagnosen), desto mehr Löffel werden pro Aktivität verbraucht. So kann es sein, dass eine Person ohne Beeinträchtigung eine Stunde nach dem Aufstehen am Morgen zwei Löffel verbraucht hat, während jemand anderes aufgrund seiner Diagnose schon 15 benötigt. Im Vergleich haben Betroffene ihre Löffel also wesentlich schneller aufgebraucht. Wiederum ist es so, dass man durch Pausen eventuell seinen Löffelbestand wieder aufbauen kann. Betroffene brauchen aber viel früher und auch längere Pausen, um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen. Die meisten Löffel kann man nachts im Schlaf generieren. Allerdings sind einige der nicht sichtbaren Erkrankungen oder Behinderungen auch mit Schlaflosigkeit verbunden. Während jemand mit einem gesunden Schlaf am nächsten Morgen wieder mit der vollen Anzahl Löffel erwacht, kann es sein, dass Betroffene grundsätzlich nur mit der Hälfte in den Tag starten müssen, da ihre Nacht nicht erholsam war.

Menschen mit entsprechenden Diagnosen erleben diesen Effekt tagtäglich. Man startet mit weniger Löffeln in den Tag, verbraucht mehr Löffel für die gleichen Aktivitäten und muss zusätzlich Löffel für Dinge ausgeben, die die entsprechenden Diagnosen mit sich bringen (chronische Schmerzen, Depressionen, Panikattacken, Ängste, Fatigue, Reizüberflutung durch autistische Wahrnehmung, Nebenwirkungen von Medikamenten…).

Betroffene müssen immer und bei allen noch so kleinen Aktivitäten individuell und aufs Neue entscheiden, ob sie die nötige Kraft (Anzahl der Löffel) haben oder aufbringen können. Gehen sie mit ihren Löffeln nicht achtsam um, folgt früher oder später unweigerlich ein Zusammenbruch, der für Außenstehende dann so aussehen kann, als wäre er grundlos erfolgt. Menschen, denen man ihre Beeinträchtigung nicht ansieht, werden dann durchaus als faul, bequem und egoistisch wahrgenommen. Damit tut man Betroffenen unrecht, denn die meisten würden sich selbst wünschen, nicht so schnell ihre individuelle Grenze zu erreichen bzw. zu überschreiten. Außerdem ist dieser Umstand für viele mit sehr viel Scham und Schulgefühlen verbunden. Die eigenen Grenzen zu akzeptieren und ihnen ihre Berechtigung zuzugestehen, das ist ein Prozess, der unter Umständen sehr viele Jahre in Anspruch nehmen kann. Das Umfeld kann entscheidend dazu beitragen, indem es Betroffene unterstützt, keine Vorwürfe macht, keine Erklärungen einfordert bzw. Erklärungen nicht relativiert (zb. mit Sätzen wie: mir geht es auch manchmal so) und individuelle Grenzen akzeptiert.

Im Austausch mit autistischen Menschen fällt sehr häufig der Satz: Ich habe keine Löffel mehr. In diesem Fall ist Rückzug, Ruhe und eine reizarme Umgebung absolut notwendig. Gelingt das auf längere Sicht nicht, droht ein autistisches Burnout. Ich selbst war zweimal längere Zeit nach einem Burnout krank geschrieben. Seit dem letzten kann ich nicht mehr arbeiten gehen und habe fast zwei Jahre gebraucht, um überhaupt wieder in den Alltag zu finden. Auch haben sich meine chronischen Erkrankungen verschlimmert und eine weitere kam hinzu, als direkte Folge permanenter Überlastung.

Das Umfeld kann oft nur schwer verstehen, warum Kinder, Geschwister, Freunde oder Partner erschöpft sind, obwohl sie doch in ihren Augen vermeintlich „wenig“ geleistet haben. Sie vergessen dazu häufig, dass auch positive Dinge immer Löffel kosten, und dass Betroffene auch nach positiven Aktivitäten ihre Ruhe brauchen. Hinzu kommt, was für den einen erholsam ist, muss für den anderen noch lange nicht zielführend sein. Wichtig ist, Betroffene entscheiden selbst, wie, wodurch und woraus sie neue Kraft schöpfen. Die einen müssen sich am Tag zum Schlafen zurück ziehen (so geht es mir), während andere beim Zocken ihre Ruhe wollen. Beides ist legitim, solange die jeweilige Person dadurch besser durch den Tag kommt.

Wann wird die Beratung zur Belastung?

Seit einigen Jahren berate ich in Facebook-Gruppen zum Thema Autismus. Für mich war es schon immer wichtig, mich mit Gleichgesinnten auszutauschen, zu vernetzen und dadurch neue Sichtweisen zu erhalten. Als mein Sohn kurz vor der Diagnostik stand, meldete ich mich in einer Facebook-Gruppe für Eltern autistischer Kinder an. Nach und nach wurden mir Blogs und weitere Gruppen vorgeschlagen, unter anderem die beiden Gruppen, die ich aktuell mit moderiere. Insgesamt bin ich in etwa 15 autismusspezifischen Gruppen. Gerade auch in der Anfangszeit, als ich noch völlig unwissend an dieses Thema herangegangen bin, waren die Gruppen eine wichtige Stütze zur seriösen Informationsbeschaffung. So erfuhr ich schnell, dass man bestimmte Therapiemethoden (in der Hauptsache ABA – Applied Behavior Analysis) meiden sollte, und wie die Schwurbel- und Verschwörungsszene versucht, in dem Bereich an Einfluss zu gewinnen, und das teilweise auch hat. Die Falschbehauptung beispielsweise, die MMR-Impfung löse Autismus aus, hält sich hartnäckig und hat zu einem deutlichen Rückgang bei Impfungen und zu einer allgemeinen Impfskepsis geführt.

Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass ich selbst im Spektrum bin. Aber der Kontakt zu anderen autistischen Menschen in den Gruppen, insbesondere zu Frauen im Spektrum, ließ mich dann doch erkennen, dass mein Sohn nicht der einzige Autist in unserer Familie ist. Zwei Jahre nach meinem Sohn erhielt ich dann selbst die Diagnose.

In dieser Hinsicht waren die Gruppen sehr hilfreich. Ich habe nicht nur ein völlig neues Selbstverständnis für den Umgang mit meinem Sohn entwickelt, sondern auch den Weg zu meiner autistischen Identität gehen dürfen. Der Kontakt zu anderen autistischen Menschen hat nach wie vor positiven Einfluss auf mein Seelenheil.

Es ist aber, wie so vieles im Leben, ein zweischneidiges Schwert. Im Folgenden beschreibe, wann und wie die Arbeit in den Gruppen sehr erschöpfend, nervenaufreibend und somit zur Belastung werden kann. Manche Themen triggern auch uns ModeratorInnen stark. Das geht dann einigen Mitgliedern nicht anders. Ich merke immer sehr deutlich an den Reaktionen anderer Mitglieder, ob jemand, meist unbeabsichtigt, einen Nerv getroffen hat. Dazu bringen alle AutistInnen in den Gruppen ihre eigene Geschichte mit. Sehr viele von ihnen haben in ihrer Kindheit oder Jugendzeit Traumata erfahren. Ausgrenzung, Mobbing, diskriminierende Erfahrungen und erzwungene Anpassung sind Dinge, die die meisten von uns kennen. Nicht wenige haben im Laufe ihres Lebens aufgrund dessen komorbide Erkrankungen oder Störungen entwickelt. Psychische Erkrankungen oder chronische Schmerzen gehören zum Alltag vieler autistischer Menschen. Diese prägenden Erfahrungen vieler autistischer Mitglieder darf man nicht aus dem Blick verlieren, wenn sie in den Gruppen meist Eltern oder aber Fachkräfte beraten. Es gibt sehr viele Dinge, für andere meist Kleinigkeiten, die bei AutistInnen immer wieder Triggerpunkte drücken. Das kann ein Nebensatz sein, oder auch die Art und Weise, wie man auf Kommentare reagiert. Es entsteht häufig der Eindruck, dass die autistische Sichtweise abgetan oder nicht ernst genommen wird. Insbesondere dann, wenn Eltern oder Fachkräfte mit dem Ziel in die Gruppen kommen, Lösungen für „unerwünschte“ Verhaltensweisen zu bekommen. Aus unserer Sicht bieten wir hier keine Lösungen, sondern erörtern die mögliche Ursache. Diese ist es dann auch, die man angehen muss, nicht die „störenden“ Verhaltensweisen. Das ist häufig der Punkt, an dem man merkt, ob Eltern an wirklichem Austausch, Input und Perspektivwechsel interessiert sind. Sind sie das nicht, reagieren sie herablassend, ignorant und abwertend. Ein Austausch auf Augenhöhe ist dann nicht mehr möglich. Eine Userin beschrieb dieses Verhalten neulich als jovial, und das trifft es sehr gut. Der Austausch wird dann oft abgewürgt mit Aussagen wie „auch ein autistisches Kind muss xy lernen“ oder „du nutzt deine Behinderung/Diagnose als Ausrede“. Diese zwei Sätze sind für mich ein ganz klares Signal, dass ich hier höchstwahrscheinlich niemanden erreichen werde. Sie sind häufig das Ende einer ganzen Reihe von diskriminierende Aussagen, mit denen DiskussionspartnerInnen uns ganz klar signalisieren wollen, wo wir im Verhältnis zu ihnen stehen, wie sie uns einschätzen und dass sie unsere Argumentation für absolut inakzeptabel halten. Nicht alle Angehörigen oder gar Fachleute wollen sich ausgerechnet von autistischen Menschen erklären lassen, wie sie sich den Umgang mit autistischen Bedürfnissen vorstellen. Das geht dann nämlich doch zu weit (Sarkasmus). Ich merke generell sehr schnell, wie sich eine Diskussion mit der Zeit verändert, und welchen Einfluss bestimmte Dinge auf autistische Mitglieder haben. Gereizte Stimmung und Trigger kann ich den Kommentaren sehr schnell entnehmen. Ich bin fast ausschließlich in Gruppen aktiv, die von AutistInnen geleitet werden, da diese doch am meisten an den Bedürfnissen der Kinder interessiert sind. In vielen anderen Gruppen geht es meist nur darum, dass Eltern sich gegenseitig bedauern, den Autismus ihrer Kinder verteufeln oder sich generell über ihre autistischen Mitmenschen echauffieren. Da ist für mich sehr schnell eine Grenze erreicht, da ich solche Aussagen emotional nur schlecht verarbeiten kann. Ich muss an keinem Austausch mitwirken, bei dem sich manchmal über Tage hinweg Menschen gegenseitig darin bestätigen, wie schlimm autistische Menschen doch sind.

Wir formulieren in unseren Gruppen schon sehr eindeutig, wie unsere Beratung ausgerichtet ist. Wir orientieren uns nicht an gesellschaftlichen Normen, sondern immer an den Bedürfnissen des autistischen Kindes. Dazu gehört auch, dass wir bestimmte Therapieformen wie ABA oder auch die Festhaltetherapie ablehnen. Nicht immer können Eltern oder auch Fachkräfte das nachvollziehen, weil die Ergebnisse unter Umständen nach außen hin (!) ja doch recht erfolgversprechend wirken. Sie sehen nur das vermeintliche Ergebnis (das bei genauem Hinschauen oft keines ist, oder ganz simpel ein Teil der individuellen Entwicklung), aber nicht, was es ihre Kinder kostet. Das Schlimme an so einer Diskussion finde ich immer, dass Betroffene dann dazu genötigt werden, ihre eigenen traumatischen Erlebnisse zu schildern, um zu verdeutlichen, worum es ihnen geht. Damit macht man sich in der Beratung auf eine Art angreifbar, weil man intimste Erlebnisse und Gefühle teilt. Noch wesentlich dramatischer ist es dann, wenn man auch nach einer solchen Schilderung nicht ernst genommen und an dem Standpunkt festgehalten wird. Das kann einen schon sehr an die Belastungsgrenze und darüber hinaus bringen. Folglich passiert es immer wieder, dass AutistInnen den Eindruck gewinnen, ihre Expertise spiele keine Rolle, mit dem Ergebnis, dass sie sich aus der Beratung zurück ziehen. Denn das ist frustrierend und unglaublich respektlos uns gegenüber und gerade auch das triggert viele von uns enorm. Es ist die Art und Weise, wie einfach zu oft mit uns, unseren Bedürfnissen und unseren Ressourcen umgegangen wird.

Sehr schwierig wird es für uns, wenn wir ganz konkret lesen müssen, wie negativ Eltern ihre Kinder betrachten, zu welchen Dingen Kinder wider ihrer autistischen Bedürfnisse zu Hause oder in Therapien genötigt werden, oder welche Konsequenzen sie wegen ihres autistischen Verhalten tragen müssen. Ich habe von Kindern gelesen, die man auf dem Boden schlafen ließ, die man in ihren Betten fixierte, denen man Lebensmittel aufzwang, obwohl sie sich davon erbrachen, die man stundenlang der Festhaltetherapie unterzog, die von LehrerInnen vor der ganzen Klasse gedemütigt wurden, deren Eltern die Annahme der Diagnose verweigerten, denen gedroht wurde, sie ins Heim zu stecken, die in ihren Zimmern eingeschlossen wurden, die von ihren Eltern mit MMS-Einläufen gequält wurden, die emotional erpresst oder bestraft wurden, Kinder denen jedes einfache Hilfsmittel in der Schule verboten wurde, und solche, die zu neurotypischem Verhalten gezwungen wurden, obwohl es für sie eine Tortur war. Von einigen dieser Dinge lese ich täglich. Und das ist tatsächlich etwas, was sich nur schwer aushalten und verarbeiten lässt. Das kann man in Anbetracht des eigenen Stresses, dem man täglich ausgesetzt ist, nicht immer oder für lange Zeit machen.

Ich merke sehr schnell, wie sich eine Diskussion mit der Zeit verändert, und welchen Einfluss all diese Dinge auf autistische Mitglieder haben. Manchen Eltern ist nicht bewusst, wie ihre Art mit uns umzugehen, uns immer wieder stresst oder gar triggert (je nach eigener Geschichte, Erfahrung oder Traumatisierung). Sie verstehen nicht, welche Kompensationsleistung in solchen Momenten vollbracht werden muss. Es kann mitunter sogar vorkommen, dass Eltern unseren Autismus gegen uns verwenden, insbesondere dann, wenn ihnen die Argumente ausgehen oder wir ganz direkt ansprechen, welche Dinge wir für autistische Kinder als schädlich empfinden. Ich würde mir an dieser Stelle tatsächlich mehr Bewusstsein von Eltern für diese Problematik wünschen. Autistische Menschen gehen im Grunde permanent an ihre Belastungsgrenze, um ihnen und ihren Kindern zu helfen.

Würde sich die Beratung immer derart gestalten, dann hätte ich mich wahrscheinlich schon längst zurück gezogen und würde nur noch für meinen Blog schreiben. Glücklicherweise erreicht man in den Gruppen doch einige Menschen, die offen für den Perspektivwechsel sind, die autistischen Menschen wertschätzend begegnen, und (was ich immer besonders schön finde) ihre eigene autistische Identität finden.

Bei weitem nicht immer sind es die Eltern, die mit ihren Schilderungen eine Herausforderung darstellen. Oftmals sind die Eltern sehr verzweifelt, haben ein traumatisiertes Kind zu Hause und bekommen kaum Unterstützung, sondern im Gegenteil noch sehr viel Druck von außen. Jugendämter und Schulen sind nicht immer eine Entlastung. Die Eltern sind dann durch das Leid ihrer Kinder an sich schon an ihrer Belastungsgrenze und haben dadurch oftmals nicht mehr die Kraft, sich gegen Aussagen und Verurteilungen von LehrerInnen oder SachbearbeiterInnen zu wehren. Ihnen wird häufig unterstellt, dass sie Schuld am Zustand ihres Kindes sind. Ich denke, Nicht-Betroffene können sich gar nicht ausmalen, unter welchem Druck Eltern in solchen Fällen stehen können. Auf der einen Seite das Kind mit immensem Leidensdruck und auf der anderen Seite ein System, das versucht, die Kinder anzupassen und sie in eine gesellschaftliche Norm zu pressen, ungeachtet dessen, dass ein autistisches Kind dadurch großen Schaden davon tragen kann. Persönlich kann ich das oft nur schwer aushalten, weil ich selbst erleben musste, wie ein System ein Kind kaputt machen kann. Man fühlt sich oft hilflos ausgeliefert und ist unglaublich abhängig von denjenigen, die mit dem Kind arbeiten, sei es in der Schule oder in einer Therapie. Aber auch Entscheidungsträger wie das Jugendamt können in einzelnen Fällen die Situation noch verschärfen. Es gibt ein großes Machtgefälle innerhalb des Systems.

Schade finde ich (und ich weiß, dass viele autistische Menschen das durchaus auch als belastend empfinden), dass es bei all dem noch (!) relativ wenig Raum für den Umgang mit diskriminierenden und ableistischen Strukturen und Sichtweisen eines jeden im Alltag gibt. Das fängt nämlich schon weit früher an, als ich es oben beschrieben habe. Wir, und ich nehme mich da nicht aus, nehmen im Alltag permanent Wertungen vor, sei es durch bestimmte Begrifflichkeiten oder die Kategorisierung von vermeintlichen „Defiziten“. Hinzu kommen strukturelle Probleme in den Bereichen Bildung, Inklusion, Diagnostik und Therapien, die immer wieder Diskriminierung fördern und festigen. Das Bewusstsein dafür (wie es beispielsweise die Autistic Pride Bewegung versucht zu schaffen), wo Diskriminierung anfängt, und wie man ihr begegnen kann, ist häufig fast kaum vorhanden. Versucht man im Ansatz solche Dinge anzusprechen, wird das schnell als überzogen, unwichtig (in dem Sinne, dass es doch wichtigere Dinge gäbe) und störend empfunden. Dieser Problematik wird in der Beratung derzeit (noch) zu wenig Platz eingeräumt. Dennoch wird das, zurecht, als diskriminierend wahrgenommen und hat dann auch Einfluss auf die im Austausch befindlichen AutistInnen. Für Nicht-Betroffene sind es nur Kleinigkeiten, aber tatsächlich sind es Dinge, die wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit autistischen Menschen haben. Ihnen sollte also mehr Raum gegeben werden.

Ich freue mich über jede Person, die ich erreichen kann. Es ist nicht leicht, immer wieder das eigene Erleben zu schildern, insbesondere wenn es sich dabei um negative Erlebnisse handelt. Umso schöner sind die Berichte von Eltern, die aufgrund der Schilderungen von AutistInnen besseren Zugang zu ihren Kindern erlangen konnten, und die so viel besser für deren Bedürfnisse auf so vielen Ebenen eintreten können. Damit haben wir unser Ziel erreicht!

Die Maske – ein Streitthema

Es gibt derzeit kaum ein Thema, das derart polarisiert, wie die Maske bzw. die Maskenpflicht an verschiedenen Orten und für alle möglichen Bevölkerungsgruppen. Die Maske steht wie nichts anderes für die Pandemie.

Die Diskussion darum macht mich mittlerweile aggressiv. Ich trage die Maske, aus solidarischen Gründen. Ich möchte nicht verantwortlich sein, wenn jemand sich ansteckt. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Genauso verfährt meine Familie mit vielen anderen Dingen. Wir isolieren uns weitestgehend, mein Mann ist im Homeoffice, wir gehen nur zum Einkauf unter Menschen und wir haben nur vereinzelt „sichere“ Kontakte. Ich denke: wer diese verdammte Maske tragen kann, soll das auch tun, und zwar über Mund und (!) Nase! Wenn man nur einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass man eine andere Person nicht infiziert, dann sollte das Grund genug sein.

Für viele autistische Menschen ist die Maske jedoch sensorisch eine große Herausforderung. Für mich auch. Für mich ist das Atmen nicht das Problem, obwohl ich Asthmatikerin bin. Aber meine Sinne sind durch das Tragen der Maske stark überreizt. Ich kann mich schlechter orientieren und konzentrieren, alles am Kopf stört mich sowieso und triggert schnell eine Migräneattacke. Aber gut, es ist jetzt eben so. Ich habe mit der Maske sogar Sport im Fitnessstudio gemacht.

Mein Sohn hat aufgrund seines Autismus eine Befreiung bekommen. Allerdings haben wir im Alltag immer wieder unterschiedliche Systeme geübt, da wir finden, dass jeder im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten seinen Teil dazu beitragen sollte. Wenn es dann nicht möglich ist, dann ist das so. Aufgrund der Befreiung war er ein halbes Jahr in keinem Geschäft. Wäre das ein Thema für die Schule, würde ich ihn von der Präsenzpflicht befreien lassen. Ich möchte nicht, dass er jemanden gefährdet. Im Alltag war es hin und wieder so, dass er die Maske trotzdem tragen musste, beispielsweise bei Arztterminen. Aber wie gesagt, wir haben geübt und mittlerweile geht eine Maske. Er ist dafür mein persönlicher Held, da er mit dem Thema reifer und verantwortungsbewusster umgeht, als so manch andere Menschen. Das habe ich ihm auch so kommuniziert und er war sehr stolz auf sich.

In den FB-Gruppen haben wir das Thema fast täglich. Insbesondere autistische Kinder tun sich häufig mit der Maske schwer. Die sensorische Wahrnehmung, ein Fremdkörper im Gesicht und oft einsetzende Panik macht es einigen Kindern einfach unmöglich, die Maske zu tragen. Aber auch einige erwachsene AutistInnen schaffen es nicht. Ich finde, das muss man unbedingt akzeptieren. Das ist in solchen Fällen dann auch keine Frage des Wollens.

Ich persönlich würde dann versuchen, Dinge zu delegieren, um so nur im äußersten Notfall in die Situation zu kommen, doch eine Maske tragen zu müssen. Auch würde ich im Vorfeld abklären, inwieweit ein Attest akzeptiert würde. Das kann Betroffenen unangenehme Situationen ersparen.

Tatsächlich treffen im Falle einer Befreiung von der Maskenpflicht zwei Bedürfnisse aufeinander, und ehrlich gesagt, sehe ich keine wirkliche Lösung für diesen Zwiespalt. Die einen können behinderungsbedingt keine Maske tragen, und die anderen haben das berechtigte Bedürfnis nach Selbstschutz. Niemand möchte sich dem Risiko einer ernsthaften und möglicherweise lebensbedrohlichen Infektion aussetzen. Menschen mit Behinderungen argumentieren, dass sie diskriminiert würden, und aus dieser Sicht stimmt das auch. Aber ich kann von niemandem verlangen, dass er sich diesem Risiko aussetzt. Fast jedeR kennt jemanden, die/der RisikopatientIn ist, oder ist es sogar selbst. Ich kann von keiner Lehrkraft beispielsweise verlangen, dass sie ihr herzkrankes Kind gefährdet. Wie gesagt, da prallen zwei Dinge aufeinander, die eigentlich nicht miteinander vereinbar sind.

Mittlerweile ist es leider auch so, dass durch das egoistische und unsolidarische Verhalten der Maskenverweigerer diejenigen stigmatisiert werden, die zurecht eine Befreiung von der Maskenpflicht haben. Sie werden beschimpft, zurecht gewiesen oder sogar durch öffentliche Kampagnen pro Maske mit Maskengegnern gleich gesetzt. So gab es zuletzt eine Kampagne, bei der eine Oma mit Maske jedem Menschen ohne Maske einen Mittelfinger zeigte. Zurecht wurde das auch von MmB kritisiert. Betroffene trauen sich teilweise nicht mehr unter Menschen, aus Angst vor den Reaktionen ihrer Mitmenschen.

Die Fronten von GegnerInnen und BefürworterInnen der Maske sind verhärtet. Ich bin selbst absolut pro Maske und merke, wie sehr der öffentliche Diskurs an meinen Nerven zerrt. Das Verhalten der Maskenverweigerer empfinde ich als absolut gefährlich für unsere Bevölkerung, zumal es ja nicht dabei bleibt, die Maske nicht anzuziehen. Es wird bewusst kein Abstand gehalten, Massenveranstaltungen besucht und durch Falschmeldungen versucht, die öffentliche Meinung dahingehend zu beeinflussen. Auch in unseren Gruppen (Selbsthilfegruppen für Eltern autistischer Kinder) gibt es nicht einen Beitrag, der wirklich zielführend verläuft. Oft geht es ja nur darum, sich Infos rund um Formalitäten einzuholen. Diese Infos beinhalten die wenigsten Kommentare. Wir haben bei unseren Gruppen den Konsens, dass wir zwar Tipps geben, aber durchaus auch Alternativen aufzeigen, weil wir finden, es sollten zumindest alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Das ist dann wiederum von einigen Eltern gar nicht erwünscht, was ich persönlich nicht nachvollziehen kann: Es war ein halbes Jahr lang absehbar, worauf es hinausläuft und es wird sich sicher auch noch verschärfen. Da versuche ich doch, alle Möglichkeiten auszuloten. Außerdem sollten Eltern das Ganze positiv begleiten. Wenn ein Kind eh schon Probleme mit dem Thema hat, wird das sicher nicht besser, indem ich selbst das Ganze nur negativ behandele. Gerade auch bei autistischen Kindern kann es durchaus helfen, das Thema auf einer rein sachlichen und wissenschaftlichen Ebene zu betrachten. Gibt es eine logische und nachvollziehbare Begründung für das Tragen der Maske, hilft das vielen.

Natürlich gibt es auch nach dem Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten und auch trotz guten Zuredens immer noch autistische Kinder, für die das Tragen der Maske unmöglich ist. Für diese Kinder ist eine Befreiung natürlich sinnvoll. Es bringt nichts, ein Kind permanent in einen Meltdown oder in eine Panikattacke zu treiben. Das könnte gerade auch bei autistischen Kindern dazu führen, dass noch eine ausgeprägte Angststörung hinzu kommt. Ohnehin haben sehr viele AutistInnen derzeit wieder vermehrt mit Ängsten zu kämpfen. Man muss das Thema also auch durchaus sensibel angehen. Auf keinen Fall würde ich eineN AutistIn dazu zwingen, eine Maske überzuziehen, oder gar davon abhalten, sie abzusetzen. Das ist dann ein massiver Übergriff, der großen Schaden anrichten kann.

Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, ist, wenn Eltern ihren Kindern ein Trauma regelrecht einreden, oder andere Eltern als verantwortungslos bezeichnen, weil deren Kinder eine Maske tragen. Kinder, auch Kinder mit Behinderungen, können durchaus gesund und verantwortungsvoll mit dieser Situation umgehen. Zudem gibt die Maske auch durchaus ein Gefühl von Handlungsfähigkeit. So können sie andere schützen und bekommen auch wieder mehr das Gefühl, dass auch ihre Lieben weniger Risiken ausgesetzt sind.

Egal, ob ein Kind jetzt aufgrund einer Behinderung eine Befreiung hat, oder die Maske trotzdem tragen kann, so ist dies eine Ausnahmesituation für alle. Da sehe ich die Aufgabe der Eltern vor allem darin, ihre Kinder in dieser Zeit positiv im Einhalten von Regeln zu bestärken, sie aufzufangen und ihnen Sicherheit zu geben. Ich finde auch, man sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein, und alle Möglichkeiten ausloten, und auch seine Kinder frühzeitig auf kommende Veränderungen vorbereiten. Es bleibt uns derzeit einfach nichts anderes übrig. Nur indem wir uns, soweit wie individuell möglich, solidarisch verhalten, können wir das Kommende beeinflussen!

Und für alle als Mutmacher, den ich neulich selbst mal gebraucht habe: Denkt immer daran, dass euerer solidarisches Verhalten dazu beigetragen haben könnte, dass eine andere Person noch lebt!

Autismus und Partnerschaft – ein Mitleidsfaktor?

Vor einiger Zeit las ich auf Facebook einen Artikel von Spiegel-Online. Das Thema war „ungleiche“ Partnerschaften. In diesem Falle ging es um eine Frau mit stark ausgeprägter Hochsensibilität und ihren Partner. Der Artikel ist Teil einer ganzen Reihe, bei der Menschen von ihren „ungleichen“ Partnerschaften berichten. Es wurden noch weitere Menschen gesucht, die aus ihrem Alltag erzählen. Zunächst dachte ich, das wäre doch mal ein interessantes Thema für mich. Zumal es meist nur Berichte von Paaren gibt, bei denen der Mann autistisch und die Frau neurotypisch ist. Es gibt nahezu keine Berichte, in denen es andersherum ist. Auch von gleichgeschlechtlichen oder queeren Partnerschaften liest man in dieser Hinsicht nichts. Aber dann las ich die Kommentare. Und ich verwarf direkt den Gedanken, mich dazu zu äußern.

Ich will mich auch hier nicht direkt zu meiner Partnerschaft äußern, sondern darüber, wie Partnerschaften wie unsere häufig gesehen werden. In den Kommentaren bei Spiegel-Online wurde dem Partner entweder Mitleid bekundet, oder aber er wurde dafür, dass er es mit dieser Frau „aushält“ heroisiert. Für sowas müsse man schon ein besonders starker Mensch sein, denn (so klang es unterschwellig immer mit) sonst wäre er gar nicht in der Lage, mit dieser Frau eine Partnerschaft zu führen. Kaum einer der Kommentatoren kam auf die Idee, dass die Frau ihrem Partner auch etwas zu bieten hat. In fast jedem Kommentar schwang mit: der arme Mann.

Ich empfand die Kommentare für jede Person in einer ähnlichen Situation furchtbar entwürdigend. Was sagt das dann beispielsweise über meine Partnerschaft aus? Ist mein Partner nur aus Mitleid mit mir zusammen? Hätte er nichts Besseres haben können? Versaue ich ihm dadurch, wie ich bin, sein Leben? Habe ich nichts, was mich trotz meiner Einschränkungen liebenswert macht? Kann man so überhaupt eine gleichberechtigte Beziehung führen? Bin ich ausschließlich eine Belastung? Bin ich egoistisch, weil ich mich meinem Partner zumute? Und muss ich dankbar dafür sein, dass er sich überhaupt mit mir abgibt?

Es mag solche Menschen überraschen, aber man kann durchaus eine zufriedene und glückliche Beziehung führen, auch wenn PartnerInnen Umstände mit sich bringen, die einschränken und auch Auswirkungen auf den Beziehungsalltag haben können. Mein Partner muss nicht bemitleidet werden, und ich muss auch nicht vor ihm auf die Knie fallen, weil er sich mit mir abgibt. Mein Mann ist weder aus Mitleid mit mir zusammen, noch muss ich mit irgendwelchen zweifelhaften Mitteln an mich ketten. Ich denke, unsere Beziehung ist glücklicher als viele andere „normale“ Beziehungen. Wir achten und respektieren die Bedürfnisse des Anderen und geben diesen Raum, wir haben viele gemeinsame Interessen, verbringen wahnsinnig gerne Zeit miteinander und führen viele intensive Gespräche. Wir sind glücklich. Wir streiten sehr selten und gehören auch nicht zu den Paaren, die sich im Restaurant gegenüber sitzen und nicht wissen, worüber sie sich unterhalten sollen.

Ich weiß, solche Kommentare sagen mehr über die Menschen aus, die so etwas äußern, als über mich. Dennoch sind sie ein Teil dessen, wie die Gesellschaft auf Menschen wie mich schaut, welche Wertung sie vornimmt und wie sie mich und viele andere Menschen einordnet. Das Schlimme ist, es gibt sogar Betroffene selbst, die sich stolz zeigen, mit einem „normalen“, gesunden, nicht-behinderten Partner zusammen zu sein. Sie nehmen selbst eine Wertung vor oder sehen es als „Qualitätsmerkmal“ für sich selbst. „Seht her, so weit habe ich es gebracht. Ich muss mich nicht mit jemandem wie mir zufrieden geben.“ Klingt traurig, oder? Ist es auch. Zeigt es doch, wie Betroffene selbst schon die Sichtweise annehmen, dass sie kaputt oder weniger wert sind (internalisierter Ableismus). Daran ist nichts gesund. Es zeugt von ganz wenig Akzeptanz der eigenen Identität.

Dennoch, solche Dinge sind wunderbar dazu geeignet, mich anzutriggern, schließlich war fehlende Akzeptanz etwas, was mich während meines Lebens größtenteils begleitet hat. Eigentlich spiegelt die Gesellschaft uns permanent, wie ignorant und engstirnig sie ist. Lese ich in den sozialen Netzwerken etwas über Autismus, was nicht aus der autistischen Community kommt, bin ich jedesmal entsetzt. Wirklich jedes Mal triefen die Kommentare nur so von Hass, Ableismus, Vorurteilen und Ignoranz, und zwar egal, um welchen Themenbereich es geht.

Sind meine Vorstellungen vom Umgang mit Diversität wirklich so utopisch? Bin ich durch mein Umfeld so verwöhnt? Das mag man denken, aber es zeigt mir auch, dass gar nicht so viel nötig ist, um einen anderen Weg einzuschlagen. Und vor allem, um beim Thema zu bleiben, man kann eine „ungleiche“ Partnerschaft führen, in der diese „Ungleichheit“ keine Rolle spielt.

Der „Schwerinordnung-Ausweis“, „besonders“ und andere Euphemismen – warum ich sie nicht mag

Etwas, was ich wirklich nicht leiden kann, sind Euphemismen. Euphemismen sind beschönigende oder mildernde Ausdrücke für Begriffe, die einem unangenehm sind. In diesem Fall das Wort „Behinderung“.

Es gibt da so allerlei Begriffe, die im Alltag relativ häufig Verwendung finden. Der wohl bekannteste ist „besonders“. Ich kann es fast schon nicht mehr hören oder lesen. Das hat sich so durchgesetzt, dass fast jeder weiß, was damit gemeint ist.

Ich persönlich frage mich immer, warum man solche Begriffe nutzt. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es darum geht, eine Behinderung nicht als solche benennen zu wollen. Entweder, weil man Angst vor Stigmatisierung hat, oder weil man im tiefsten Innern selbst eine negative Wertung für den Behinderungsbegriff vornimmt.

Eine Behinderung als solche ist erst einmal etwas, was Betroffenen im Alltag die Teilhabe am (gesellschaftlichen) Leben erschwert. Es gibt sichtbare und unsichtbare Behinderungen, aber jede kann für sich eine Person im Alltag individuell einschränken. Diese Einschränkungen im Alltag sollten bestenfalls durch Inklusion, Nachteilsausgleiche und Barrierefreiheit ausgeglichen werden.

Jetzt erlebe ich es eigentlich täglich, dass Menschen mit Euphemismen arbeiten. Eins davon ist der Schwerinordnung-Ausweis. Eigentlich ist es nur eine Hülle mit der entsprechenden Aufschrift für den Schwerbehinderten-Ausweis. Diesen bekommt man, bei tatsächlichen und sehr einschränkenden Beeinträchtigungen. Das heißt, man wird durch eine Diagnose an der Teilhabe behindert und gehindert. Ja, auch die Gesellschaft behindert diese Teilhabe oft, aber eben nicht nur.

Ich weiß, dass Behinderungen als solche nach wie vor negativ gewertet werden. Ich weiß selbst sehr wohl darum, was es bedeutet, seine Behinderung offen zu benennen, sich zu outen. Gerade deswegen ist es mir so wichtig, dass wir von dieser Wertigkeit weg kommen. Und das werden wir nicht, indem wir irgendwelche Euphemismen wie diesen Ausweis nutzen. Wir selbst sagen damit, dass Behinderungen etwas schlechtes sind, etwas, was man so nicht aussprechen und benennen sollte. Wir zeigen der Gesellschaft damit, dass wir verstehen, warum wir diskriminiert werden. Wir müssen das anders vorleben. Wer, wenn nicht die Betroffenen selbst können da mit positivem Beispiel voran gehen? Vor kurzem stieß mich jemand auf den Begriff „internalisierter Ableismus“. Also eine diskriminierende Einstellung von anderen, die man sich selbst zu eigen gemacht hat. Bei der Verwendung solcher Begriffe passiert genau das, wenn sich sicher nicht bewusst. Man nimmt selbst eine negative Wertung des Behinderungsbegriffes vor, und ersetzt ihn daher, durch vermeintlich wohlmeinendere Ausdrücke. Aber Behinderungen sind ein Teil von Diversität. Sie machen uns nicht schlechter oder besser, als andere Menschen. Man kann das völlig wertfrei betrachten.

Der Punkt ist, niemandem ist damit wirklich geholfen. Die Behinderung als solche ist nach wie vor da. Es kann mir niemand erzählen, dass er durch die Verwendung alternativer Begriffe weniger diskriminiert wird. Stattdessen wird Betroffenen vorgegaukelt, was wir nicht haben: Akzeptanz und Teilhabe. Diskriminierung und Ausgrenzung gibt es aber weiterhin. Nicht-Betroffene können sich vormachen, dass man mit Menschen mit Behinderungen so toll umgeht. Es soll nicht nur Betroffenen ein besseres Gefühl geben, sondern auch Nicht-Betroffenen. Letzteres ist meiner Ansicht nach auch mit ein Grund, warum dieser Vorschlag aufgegriffen und in die Tat umgesetzt wurde. Warum sollte man etwas nur für Menschen mit Behinderungen tun? Das wäre ja fast so, als würde man deren Menschenrechte anerkennen und vor allem umsetzen. Stattdessen wird sich auf solchen Dingen ausgeruht. Ich weiß, das klingt zynisch. An dieser Stelle bleibt mir oft nur noch, zynisch zu reagieren. Ich weiß nämlich, wie das ist, wenn das eigene Kind beispielsweise nicht in den hiesigen Sportverein darf oder nicht zu Aktivitäten mit befreundeten Kindern eingeladen wird (ich habe zb. jahrelang Kinder zum Geburtstag meines Kindes eingeladen, obwohl er selbst keine Einladung erhalten hat). Vor Jahren habe ich mich öffentlich mit einem großen Freizeitpark angelegt, weil dieser es sämtlichen Menschen mit Behinderungen laut der eigenen Agenda verbietet, deren Fahrgeschäfte zu nutzen. Das sind die Dinge, die für mich als Mutter furchtbar sind, aber mein Sohn hat auch selbst sehr schlimme Erfahrungen dahingehend machen müssen, wie aufgrund seines Autismus mit ihm umgegangen wurde. Ich lese jeden Tag davon, wie Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden und wie schon fast missbräuchlich mit ihnen umgegangen wird.

Ein weiterer Aspekt bei Euphemismen ist, man verniedlicht, romantisiert und verharmlost Behinderungen und das Erleben von Betroffenen. Es gibt Gründe, warum man für sich oder das Kind einen Grad der Behinderung oder einen Pflegegrad beantragt. Das macht man doch nicht, weil alles so schwer in Ordnung ist. Genauso fällt im Bezug auf Autismus gerne mal der Begriff „Superkraft“, den ich genauso wenig für mich annehmen kann. Wenn alles so super ist, benötigt man die oben genannten Unterstützungsformen nicht.

Ich weiß sehr wohl, warum und aus welcher Intention heraus so etwas entsteht. Ich kann den Grundgedanken verstehen. Insbesondere Kinder möchten aufgrund ihrer Behinderung nicht auffallen (bei autistischen Kindern erlebt man das zb. oft, indem sie Kopfhörer oder eine Schulbegleitung ablehnen). Die Erfahrungen im Alltag spielen da natürlich eine große Rolle, dem bin ich mir bewusst. Ich weiß, welche wirklich schlimmen Traumata Kinder dadurch erleben können. Und gerade für solche Situationen ist so etwas sicher hilfreich, zumindest als Überbrückung. Man kann von traumatisierten Kindern nicht verlangen, dass sie eine „gesunde“ Einstellung zu dem Thema haben, in dem Sinne, dass sie den Fehler nicht bei sich oder der Behinderung suchen. Ich will auch keinesfalls individuelle negative Erfahrungen runterspielen. Ich möchte dafür sensibilisieren, warum es nicht hilfreich ist, wenn solche Dinge quasi inflationär genutzt werden.

Meine Behinderung sagt nichts über meinen Wert als Mensch aus. Sie sagt nur aus, dass es Bereiche im Alltag gibt, in denen ich an der Teilhabe gehindert bin. Ich persönlich habe allerdings schon genug damit zu kämpfen, dass meine Einschränkungen auch anerkannt und überhaupt wahrgenommen werden. Ich denke, gerade Menschen mit unsichtbaren Behinderungen wird mit solchen Euphemismen noch weniger geholfen. Ihnen wird ohnehin schon zu oft ihr Leidensdruck und ihre Einschränkungen abgesprochen.

Jetzt mag sich das so anhören, als würde ich mich komplett über meine Behinderung oder als behinderte Person definieren. So ist es gar nicht. Bei uns im Alltag spielt das erst mal keine Rolle, weil es wie selbstverständlich dazu gehört. Selbst mein Sohn spricht über seinen Autismus und seine Behinderung in ähnlicher Form, wie er es über seine Haarfarbe tun würde. Er würde nie auf die Idee kommen, heimlich zu stimmen, keine Kopfhörer tragen zu wollen oder sich selbst die Schuld für seine negativen Erlebnisse zu geben. Erst recht nicht würde er sich krampfhaft anpassen, damit er keine „Angriffsfläche“ mehr bietet. Ich finde das eine wunderbare Art von Selbstverständnis. Mit Sicherheit konnten wir als Eltern das nur zu einem gewissen Teil beeinflussen, vieles ist bestimmt auch charakterabhängig. Ich will also nicht sagen, dass Eltern ihren Kindern nur eine gesunde Basis mitgeben müssen, und dann kommen solche Probleme gar nicht erst auf. Damit würde ich sehr vielen Eltern unrecht tun, denn so viele versuchen jeden Tag nichts anderes, als ihrem Kind ein positives Selbstverständnis zu vermitteln. Genau diese Eltern, deren Kindern so etwas sehr schwer fällt, brauchen die Unterstützung von Betroffenen, die den Weg positiv begleiten und versuchen, das gesellschaftliche Bild von Behinderungen zu verändern.

Deswegen möchte ich so gerne hin zu mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit, aber die fängt bei uns selbst an, wir müssen sie vorleben.

Anmerkung: Nicht alle Menschen mit einer Behinderung sehen sich als behindert an. Das ist für mich valide, denn nur die Betroffenen selbst können entscheiden, ob sie sich eingeschränkt fühlen.