Die Löffeltheorie – eine Erklärung, warum man nicht mehr kann, auch wenn es nicht so aussieht

Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum viele AutisInnen deutlich früher erschöpft, reizüberflutet, überarbeitet oder ausgebrannt sind. Wie den meisten betroffenen AutistInnen geht es vielen Menschen mit unsichtbaren Erkrankungen oder Behinderungen. Das Umfeld sieht keine Schmerzen, Depressionen, Schlafstörungen, Reizüberflutung und vieles mehr. Das Umfeld sieht häufig nur das, was Betroffene bereit sind zu zeigen. Und wenn sie dann an ihre Grenzen geraten, sich häufiger Ruhezeiten und Rückzug gönnen oder einfach komplett zusammenbrechen, kann das Unverständnis groß sein.

Um zu erklären, was unsichtbare Behinderungen oder Krankheiten im Alltag bedeuten, entwickelte die Lupus-Betroffene und Bloggerin Christine Miserandino eine Art Sinnbild, welches unter dem Begriff Spoon-Theory (Löffeltheorie) bekannt wurde.

Bei der Löffeltheorie schreibt man jeder Aktivität eine bestimmte Anzahl an Löffeln zu, die jeweils verbraucht werden. Hat jede Person zu Beginn eines Tages beispielsweise 25 Löffel zur Verfügung, muss man beachten, dass Menschen, die eine unsichtbare Krankheit oder Behinderung haben, aufgrund dessen im Vergleich für jede Aktivität ein Vielfaches an Löffeln verbrauchen. Je höher die individuelle Belastung (beispielsweise durch stärkere Ausprägung oder die Summe diverser beeinträchtigender Diagnosen), desto mehr Löffel werden pro Aktivität verbraucht. So kann es sein, dass eine Person ohne Beeinträchtigung eine Stunde nach dem Aufstehen am Morgen zwei Löffel verbraucht hat, während jemand anderes aufgrund seiner Diagnose schon 15 benötigt. Im Vergleich haben Betroffene ihre Löffel also wesentlich schneller aufgebraucht. Wiederum ist es so, dass man durch Pausen eventuell seinen Löffelbestand wieder aufbauen kann. Betroffene brauchen aber viel früher und auch längere Pausen, um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen. Die meisten Löffel kann man nachts im Schlaf generieren. Allerdings sind einige der nicht sichtbaren Erkrankungen oder Behinderungen auch mit Schlaflosigkeit verbunden. Während jemand mit einem gesunden Schlaf am nächsten Morgen wieder mit der vollen Anzahl Löffel erwacht, kann es sein, dass Betroffene grundsätzlich nur mit der Hälfte in den Tag starten müssen, da ihre Nacht nicht erholsam war.

Menschen mit entsprechenden Diagnosen erleben diesen Effekt tagtäglich. Man startet mit weniger Löffeln in den Tag, verbraucht mehr Löffel für die gleichen Aktivitäten und muss zusätzlich Löffel für Dinge ausgeben, die die entsprechenden Diagnosen mit sich bringen (chronische Schmerzen, Depressionen, Panikattacken, Ängste, Fatigue, Reizüberflutung durch autistische Wahrnehmung, Nebenwirkungen von Medikamenten…).

Betroffene müssen immer und bei allen noch so kleinen Aktivitäten individuell und aufs Neue entscheiden, ob sie die nötige Kraft (Anzahl der Löffel) haben oder aufbringen können. Gehen sie mit ihren Löffeln nicht achtsam um, folgt früher oder später unweigerlich ein Zusammenbruch, der für Außenstehende dann so aussehen kann, als wäre er grundlos erfolgt. Menschen, denen man ihre Beeinträchtigung nicht ansieht, werden dann durchaus als faul, bequem und egoistisch wahrgenommen. Damit tut man Betroffenen unrecht, denn die meisten würden sich selbst wünschen, nicht so schnell ihre individuelle Grenze zu erreichen bzw. zu überschreiten. Außerdem ist dieser Umstand für viele mit sehr viel Scham und Schulgefühlen verbunden. Die eigenen Grenzen zu akzeptieren und ihnen ihre Berechtigung zuzugestehen, das ist ein Prozess, der unter Umständen sehr viele Jahre in Anspruch nehmen kann. Das Umfeld kann entscheidend dazu beitragen, indem es Betroffene unterstützt, keine Vorwürfe macht, keine Erklärungen einfordert bzw. Erklärungen nicht relativiert (zb. mit Sätzen wie: mir geht es auch manchmal so) und individuelle Grenzen akzeptiert.

Im Austausch mit autistischen Menschen fällt sehr häufig der Satz: Ich habe keine Löffel mehr. In diesem Fall ist Rückzug, Ruhe und eine reizarme Umgebung absolut notwendig. Gelingt das auf längere Sicht nicht, droht ein autistisches Burnout. Ich selbst war zweimal längere Zeit nach einem Burnout krank geschrieben. Seit dem letzten kann ich nicht mehr arbeiten gehen und habe fast zwei Jahre gebraucht, um überhaupt wieder in den Alltag zu finden. Auch haben sich meine chronischen Erkrankungen verschlimmert und eine weitere kam hinzu, als direkte Folge permanenter Überlastung.

Das Umfeld kann oft nur schwer verstehen, warum Kinder, Geschwister, Freunde oder Partner erschöpft sind, obwohl sie doch in ihren Augen vermeintlich „wenig“ geleistet haben. Sie vergessen dazu häufig, dass auch positive Dinge immer Löffel kosten, und dass Betroffene auch nach positiven Aktivitäten ihre Ruhe brauchen. Hinzu kommt, was für den einen erholsam ist, muss für den anderen noch lange nicht zielführend sein. Wichtig ist, Betroffene entscheiden selbst, wie, wodurch und woraus sie neue Kraft schöpfen. Die einen müssen sich am Tag zum Schlafen zurück ziehen (so geht es mir), während andere beim Zocken ihre Ruhe wollen. Beides ist legitim, solange die jeweilige Person dadurch besser durch den Tag kommt.

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